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These 17

Das Ende des Gehirn­wachstums

Uru-Insel, Händlerinnen, Titicaca-See, Peru
Uru-Insel, Händlerinnen, Titicaca-See, Peru


Der Beginn des Netzwerks der hominiden Gehirne ist das be­obach­tete Ende des Gehirn­wachstums beim Auftreten des homo sapiens vor ca. 250.000 Jahren.

Das hominide Einzelgehirn muss nicht weiter wachsen, weil es mit anderen Gehirnen kommunizieren sowie Aufgaben und Wissens­bereiche in die Gehirne anderer Individuen auslagern, mit anderen Worten: weil es ein Netz bilden kann.

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Merlin Donald spricht viel vom Netz und der Notwendigkeit, die Fixierung auf das Individuum zu überwinden,

Uru-Insel, Dorfplatz, Titicaca-See, Peru
Uru-Insel, Dorfplatz, Titicaca-See, Peru


allerdings ist bei ihm das Netz sachlich mit der Stufe der menschlichen Kultur verbunden:

Beim Kind verläuft der Erwerb symbolischer Fertigkeiten von außen nach innen. Deshalb muss ihre evolutionsgeschichtliche Entwicklung in derselben Richtung verlaufen sein. Symbolisches Denken und Sprache sind von ihrem Wesen her Phänomene, die in Netzwerken gründen. Wir können ihre Existenz daher nicht nach dem Modell des solipsistisch abgekapselten Individuums erklären.

Hier ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Er muss die herrschen­den Theorien der menschlichen Evo­lution hinter sich lassen, denen zufolge Sprache sich im abgeschlossenen Gehäuse des Gehirns, das heißt von innen nach außen entwickelt hat. (S. 264)

Donald hat erkannt, dass der wissenschaftliche Blick auf das Individuum oder eine Gruppe von Individuen ungenügend ist und dass beim Men­schen die Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen­mitgliedern entscheidend sind.

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Erläuterung:


Dass Menschen Netzwerke bilden, ist wahrscheinlich keine sehr origi­nelle Idee, sondern vielmehr ein Allgemeinplatz.

Boden, Häuser, Boote aus Schilf, Titicaca-See, Peru
Boden, Häuser, Boote aus Schilf, Titicaca-See, Peru


In der Evolutions­forschung ist zwar viel von Gruppen, von Gruppenaktivitäten, von gemeinsamen Aktio­nen die Rede, aber wenig von Netzwerken.

Im Mittelpunkt steht das Individuum, das uns in seinen archäologi­schen Überresten begegnet und dessen Sprach- und Kulturfähigkeit als Indivi­duum und als Teil der sozialen Gruppe diskutiert wird.

Der Begriff des Netzwerks geht insofern über den Begriff der Gruppe hinaus, als mit ihm die einzelnen Gruppenmitglieder in ihrer Individualität sowie ihre unter­schiedlichen Beziehun­gen innerhalb der Gruppe thematisiert werden.

Michael Tomasello spricht viel von der Gruppe und von gemeinsamen Aktivitäten und der gemeinsamen Intentionalität der Urmenschen, die Differenzierung in unterscheidbare Individuen mit Netzwerken vermisse ich aber bei ihm.

Robin Dunbar zeigt bei der Ermittlung der Gruppen­größe und der Erläuterung dazu, dass er die Anzahl der Bezie­hungen innerhalb der Gruppe im Blick hat, ohne daraus Überlegungen zu einem möglichen Netzwerk anzustellen.

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These 16

Gehirn und Netz

Uru-Insel, Titicaca-See, Peru
Uru-Insel, Titicaca-See, Peru


Das Gehirn eines Individuums, bisher nur für die Integrität des eigenen Individuums zuständig, erhält in der intentionalen Kommunikation die zusätzliche Funk­tion, den Kontakt mit den Gehirnen anderer Individuen zu ermög­lichen und so die eigene Begrenzung zu umgehen.

Damit entsteht ein evolutiver Funktionswechsel und eine evolutive Neuheit. Die Gehirne der Indivi­duen der sozialen Gruppe bilden ein Netzwerk, so wie PC’s ein Netzwerk bilden.

Und wie ein Netz­werk, das aus vielen PC’s besteht, Aufgaben lösen kann, die den einzel­nen PC überfordern, so kann ein Netzwerk aus vielen menschlichen Gehirnen größere Aufgaben lösen als ein Ein­zelgehirn.

Das Netzwerk entsteht, um die natürliche Grenze des Gehirn­wachs­tums (These 11) ein zweites Mal zu umgehen, es entsteht zeitlich vor dem Beginn von Geist und Kultur und ist diesen als deren Voraussetzung auch sachlich vorgeord­net.