293

Erläuterung:

Schreiber, Calle Ayacucho, Cusco, Peru, 1989
Schreiber, Calle Ayacucho, Cusco, Peru, 1989


Obwohl das Gehirn ein sehr teures Organ ist, das viel Energie verbraucht, ist in der Evolution eine stete Zunahme der Gehirngröße festzustellen. Bei den Affen dient das größere Gehirn nach Robin Dunbar dazu, soziale Beziehungen zu einer größeren Zahl von Individuen herzustellen und eine größere stabile soziale Gruppe zu bilden.

In der Evolution des Menschen stieg das Gehirn­volumen weiter an, wurde aber durch die Weite des Geburtskanals der Frau begrenzt. Diese natürliche Grenze des Gehirnwachstums wurde erstens durch eine postnatale Wachstumsphase des kindlichen Gehirns umgangen.

Als auch diese Möglichkeit der Gehirnvergrößerung ausgeschöpft war, fand die Evolution eine zweite Möglichkeit, die Begrenzung des hominiden Gehirns zu überwinden. Das Gehirn des Individuums wuchs zwar selbst nicht weiter, kommunizierte aber in einer neuartigen Weise mit den Gehirnen anderer Gruppenmitglieder, so dass Wissen und Aufgaben zwischen den Gruppenmitgliedern aufgeteilt werden konnten.

Auf diese Weise entstand ein Netz, wie wir es von PC-Netzwerken kennen. Mit dem größeren postnatal vollendeten und netzwerkfähigen Gehirn war die biologische Voraussetzung für die Evolution des menschlichen Geistes gegeben, der wir uns jetzt zuwenden.

292

These 18

Ergebnis

Quito, Ecuador, 1989
Quito, Ecuador, 1989


Das Netzwerk, das die Gehirne einer hominiden sozialen Gruppe verbindet, ist die zweite Lösung der Evolution, um die natürliche Grenze des hominiden Gehirns (These 11) zu überwinden.

Das Netzwerk, das die jetzt netzwerkfähigen Gehirne bilden, dient zunächst nur der Gehirnerweiterung, noch nicht dem mensch­lichen Geist.

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Erläuterung:

Vielleicht ebenso beachtlich ist, daß, sobald vor mehr als 100 000 Jahren das Stadium des Homo sapiens einmal erreicht war, kein weiterer nennens­werter Zuwachs in der Gehirngröße mehr stattfand.

Schilf-Boot, Titicaca-See, Peru
Schilf-Boot, Titicaca-See, Peru

Aus welchem Grunde die Auslese dem primitiven Menschen zu einem solch perfekten Gehirn verholfen haben sollte, daß es 100 000 Jahre später die Leistungen eines Descartes, Darwin oder Kant oder die Erfindung des Elektronengehirns und die Reisen zum Mond oder die literarischen Schöpfungen eines Shakespeare oder Goethe erlauben sollte, ist schwer zu verstehen.
(Mayr 2002, S. 501)

Hat Ernst Mayr Recht mit der Aussage vom perfekten Gehirn des Homo sapiens, fragte ich oben. Jetzt gibt es die Antwort: Ja und Nein. Er hat Recht, weil das menschliche Gehirn mit der Netzfähigkeit sozusagen ein Wundermittel gefunden hat, um sich über das Netz unbegrenzte Gehirn­kapazitäten zu erschließen.

Aber Mayr hätte nicht Recht, wenn man die Aussage so verstehen würde, dass das Gehirn eines Descartes, Darwin oder Kant allein die großen Leistungen erbracht hätte, ohne die Hilfe des menschlichen Netzwerks an klugen Vorläufern, kritischen Zeit­genossen, interessierten Diskussions­partnern usw.

Das Ende des Gehirnwachstums der Hominiden ist ein paläo­anthropo­logisch überprüfbarer Sachverhalt, der mit dem Auftreten des modernen Homo sapiens verbunden ist.