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4.5.6.
Die jüdischen Dichter geben eine Zeit an, in der sie auftraten

Kapernaum, antike Synagoge
Kapernaum, antike Synagoge

bzw. ihre Offenbarungen empfingen. Es ist aber keine reale Zeit gemeint, sondern die fiktive Zeit der alttestamentlichen fiktiven Geschichte.

4.5.7.
Wie die römischen Dichter, die vates, so begleiteten auch die jüdischen Dichter-Propheten die Geschichte ihrer Zeit und machten ihre Zeitge­nossen sensibel für die religiösen Probleme, die sozialen Ver­werf­ungen und die Hoffnungszeichen in schwerer Zeit.

Gegenstand ihrer Analyse und Adressat ihrer Mahnungen und ihrer Verheißungen war die jüdische Welt des 1. Jahrhunderts, zu der auch Jesus und die ersten Christen gehörten.

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4.5.5.
Die jüdischen Dichter-Propheten engagierten sich nicht beim Militär, auch nicht in der Liebe, sondern übertrugen die Liebesmetaphorik

Kapernaum, antike Synagoge
Kapernaum, antike Synagoge

Ovids und anderer Dichter auf die religiöse Ebene. Bei Ovid klagte der Liebende, das literarische ich, über die Untreue der geliebten Frau.

Bei den hebräischen Dichter-Propheten, klagte der jüdische Gott in densel­ben Bildern und Versen über die Untreue seines geliebten Volkes, der Juden, vgl. Hes 16 und 23.

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4.5.4.
Ovid und die anderen augusteischen Dichter hatten als Ersatz für den verlorenen Militär- und Staatsdienst den Minnedienst empfohlen. Ovid

Kapernaum
Kapernaum

beschrieb in mehreren literarischen Werken, dass der junge Mann, dem der Dienst am Vaterland versagt geblieben oder unattraktiv gewor­den war, sich dem Liebesdienst, dem Dienst an der Geliebten hingeben soll, und Ovid gab ihm Tipps, wie er dies tun konnte.

Den jungen Männern Judäas und Galiläas ging es ebenso wie den jun­gen Römern: Die Friedenszeit unter Kaiser Augustus und seinen Nachfol­gern hatte ihnen eine Militärkarriere versagt, die Monarchien der Herodes­nachfolger bzw. die römischen Statthalter­schaf­ten verhinderten politisch einflussreiche Ämter, die es in den unabhängigen Kleinstaaten gegeben hatte.

Die Alternative Ovids, der Dienst der Liebe, war dem religiösen jungen Mann in Judäa und Galiläa, ebenfalls verwehrt.

Die augusteischen Dichter hatten aber nicht nur die Liebe als alterna­tives Engagement empfohlen, sondern hatten die sozialen und religiösen Verhältnisse in Rom angeprangert. Und dieses Engagement entdeckten die jüdischen Dichter als neues Betätigungsfeld.