298

Die Lösung bot die Idee der Emergenz.

Puno, Peru
Puno, Peru


Zum Begriff schreibt Ernst Mayr:

Systeme haben fast immer die Besonderheit, daß sich die Eigenschaften des Ganzen nicht (und zwar nicht einmal in der Theorie) aus einer auch noch so vollständigen Kenntnis der Bestandteile, einzeln genommen oder in anderen Teilkombinationen, ableiten lassen.

Man bezeichnet dieses Auftreten neuer Eigenschaften in einem Ganzen als Emergenz und zieht diesen Begriff häufig bei dem Versuch heran, so schwierige Phänomene wie Leben, Geist und Bewußtsein zu erklären. Tatsächlich ist die Emergenz für inorganische Systeme nicht weniger charakteristisch.
(Mayr 2002, S. 52)

Biologische Organismen sind komplexe Systeme mit neuen Eigen­schaften, die ein neues Regelwerk erfordern, nämlich eine eigenständige biologische Theorie. Achim Stephan nennt in seinem Buch über die Emergenz (Paderborn, 3. Aufl. 2007) vier Merkmale emergentistischer Theorien (S. 14 – 25):

1. Naturalismus: nur natürliche Faktoren spielen in der Evolution eine Rolle,
2. Neuartigkeit: es entsteht etwas genuin Neuartiges,
3. Systemische Eigenschaften,
4. Hierarchie der Existenzstufen: insbesondere die Bereiche des Mate­riel­len, des Biologischen und des Geistigen.

291

Erläuterung:

Vielleicht ebenso beachtlich ist, daß, sobald vor mehr als 100 000 Jahren das Stadium des Homo sapiens einmal erreicht war, kein weiterer nennens­werter Zuwachs in der Gehirngröße mehr stattfand.

Schilf-Boot, Titicaca-See, Peru
Schilf-Boot, Titicaca-See, Peru

Aus welchem Grunde die Auslese dem primitiven Menschen zu einem solch perfekten Gehirn verholfen haben sollte, daß es 100 000 Jahre später die Leistungen eines Descartes, Darwin oder Kant oder die Erfindung des Elektronengehirns und die Reisen zum Mond oder die literarischen Schöpfungen eines Shakespeare oder Goethe erlauben sollte, ist schwer zu verstehen.
(Mayr 2002, S. 501)

Hat Ernst Mayr Recht mit der Aussage vom perfekten Gehirn des Homo sapiens, fragte ich oben. Jetzt gibt es die Antwort: Ja und Nein. Er hat Recht, weil das menschliche Gehirn mit der Netzfähigkeit sozusagen ein Wundermittel gefunden hat, um sich über das Netz unbegrenzte Gehirn­kapazitäten zu erschließen.

Aber Mayr hätte nicht Recht, wenn man die Aussage so verstehen würde, dass das Gehirn eines Descartes, Darwin oder Kant allein die großen Leistungen erbracht hätte, ohne die Hilfe des menschlichen Netzwerks an klugen Vorläufern, kritischen Zeit­genossen, interessierten Diskussions­partnern usw.

Das Ende des Gehirnwachstums der Hominiden ist ein paläo­anthropo­logisch überprüfbarer Sachverhalt, der mit dem Auftreten des modernen Homo sapiens verbunden ist.

263

These 8

Die biologischen Ursachen

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Die erste Aufgabe besteht darin, die biologischen Mechanismen zu be­schrei­ben, die zur Entstehung des menschlichen Gehirns führten. Es  sind also die biologischen Ursachen für die Entwicklung des mensch­lichen Gehirns, des Gehirnwachstums und des Endes des Gehirn­wachstums vor Beginn der Kulturleistungen des homo sapiens darzu­legen.

Die zweite Aufgabe besteht darin zu beschreiben, wie das bereits vorhandene menschliche Gehirn durch einen Funktionswechsel zur biologischen Basis des Geistes werden konnte.

Erläuterung:

Wenn ich bei einem Gegenstand die Einzelheiten nicht gut genug erkenne, nehme ich eine Lupe zu Hilfe, will ich noch mehr Details oder Material­strukturen erkennen, benutze ich ein Mikroskop. Will ich einen Sachverhalt wissenschaftlich erforschen, dann besteht eine Methode darin, den Sachverhalt in viele kleine Problemfelder aufzugliedern, die jeweils einzeln untersucht werden. Am Ende werden die Lösungen wieder zusammengefasst.

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252

Wie eine Funktionsverschiebung funktioniert, beschreibt Mayr anschlie­ßend wie folgt:

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989

Während einer solchen Funktionsverschiebung durchläuft eine Struktur immer eine Phase, in der sie gleichzeitig zwei Funktionen ausüben kann, wie die Antennen von Daphnia, die gleichzeitig Sinnesorgan und Schwimmruder sind. Diese Dualität der Funktion ist möglich, weil der Genotyp ein höchst komplexes System ist, das immer auch gewisse Aspekte des Phänotyps produziert, die nicht unmittelbar durch die Auslese gefördert werden, sondern einfach "Nebenprodukte" des von der Selektion begünstigten Genotyps sind.


Solche Nebenprodukte stehen dann für den Erwerb von neuen Funktionen zur Verfügung. Sie sind es, die es den vorderen Gliedmaßen (mit einer Flughaut) eines Tetrapoden gestatten, als Flügel zu fungieren, oder der Lunge eines Fisches, als Schwimmblase. Es gibt im Phänotyp jedes Organismus zahlreiche "neutrale Aspekte", die von der natürlichen Auslese "zugelassen", d. h. nicht beseitigt werden, die aber auch nicht spezifisch durch sie begünstigt worden sind.

Derartige Komponenten des Phänotyps stehen zur Übernahme neuer Funktionen zur Verfügung. Verschiebungen in der Funktion sind auch von Makromolekülen und Verhaltensmustern bekannt, zum Beispiel, wenn bei bestimmten Enten das Gefiederputzen zu einem Teil des Werbeverhaltens wird.
(Mayr 2002, S.491

Über die Intensivierung der Funktion eines vorhandenen Organs schreibt Mayr weiter:

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251

These 4

Evolutive Neuheiten

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Evolutive Neuheiten entstehen nach Darwin und Mayr durch eine Funktionsverschiebung vorhandener Organe, die dabei gleichzeitig zwei Funktionen ausüben können, nicht aber durch die selektive Begünsti­gung eines neuen, noch nicht funktions­fähigen Organs.

Erläuterung:

Nach der Theorie von Charles Darwin vollziehen sich die evolutionären Veränderungen in sehr kleinen Schritten.

Nach dem Vorbild des Gradualismus in der Geologie, wo mehrere Kilometer hohe Gebirge in Millimeter-Schritten aufgefaltet werden und der heute Hunderte von Kilometern breite Atlantische Ozean sich infolge der Platten­verschie­bung jährlich nur wenige Zentimeter öffnet, erfolgt die Evolution von Lebewesen in denkbar kleinen Schritten von einer Generation zur nächsten.

Bei der Veränderung der Größe, der Farbe und anderer Merk­male, die einen fließenden Übergang gestatten, bietet die Vorstellung der allmählichen Änderung keine Schwierigkeiten. Aber wie sieht es aus, wenn aus dem Fisch plötzlich ein Landtier wird, wo kommen plötzlich die Beine zur Fortbewegung, die Lunge zum Atmen, die nicht austrocknende Haut her?

Wenn ein kleiner Raubsaurier zum Vogel wird, woher hat er plötzlich federbewehrte Flügel, um sich in die Lüfte zu erheben?

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