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Das Urchristentum ist eine zwangsläufige Erscheinung des 1. Jahrhunderts n. Chr. Das Aufkommen

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des römischen Kaisertums und die damit verbundenen neuen sozialen Regeln erforderten eine Religion, die die neuen sozialen Normen religiös absegnen konnte. Das Zusammenleben vieler Völker und Kulturen im Römi­schen Reich beförderte Religionen, die für alle Kulturen annehm­bar waren.

 

Hätte es das Frühchristentum nicht gegeben, hätte eine andere Religion dessen Stelle eingenommen. Ein Versuch in dieser Hinsicht wurde mit dem Kaiserkult in Kleinasien gemacht. Weil das Urchristen­tum eine notwendige Erscheinung des frühen Kaiser­reiches war, kann und muss es als historisches Phänomen erforscht werden jenseits der theo­logischen Prämissen.

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Das Urchristentum: eine zwangsläufige Erscheinung der frühen
römischen Kaiserzeit

Meine Antwort auf die Frage, ob das Urchristentum

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eine notwen­dige Vernunftwahrheit oder eine zufällige Geschichts­wahrheit ist, geht zurück auf die Lösung, die 1900 Jahre lang im Christentum favorisiert wurde. Den biblischen Autoren ist die freischwebende Gottheit (Gott als der “ganz andere”) der protestantischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg fremd. Für sie ist Gott immer bezogen auf die Welt und auf die menschliche Geschichte.

 

Das Urchristentum sieht sich selbst fest verbunden mit der Zeit, in der Jesus und die Apostel auftraten. Deshalb werden die jüdischen Herrscher, die römischen Statthalter und die Kaiser namentlich genannt. Deshalb wird Bezug genommen auf astronomische Erscheinungen wie den Stern von Bethlehem (große Konjunktion 7 v. Chr.) und den Wechsel des Frühjahrssternbildes.

 

Das Urchristentum ist überzeugt, dass Gott Mensch wurde, und zwar in der frühen römischen Kaiserzeit, in der historischen Person Jesus (Johan­nes-Prolog). Die Theologie ist auf dem Holzweg, wenn sie versucht, aus Jesus einen Mythos zu machen (Bultmann), aus dem Stern von Bethlehem eine Legende und aus dem neuen Zeitalter, das mit Jesus und den Jüngern begann, eine religiöse Phantasie.

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Was waren die Folgen? Aus dem im Zentrum historischer Ereignisse stehenden Jesus,

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der erst durch das persönliche Eingreifen des römischen Statthalters Pilatus zum Schweigen gebracht werden konnte, wurde ein unbe­deu­tender Wanderprediger. Aus dem umjubelten Messias, dessen Anhänger wenige Jahre nach seinem Tod durch kaiserliches Edikt wegen Aufruhrs aus Rom vertrieben wurden, wurde ein unbekann­ter Rabbi, der die hellenisierten Städte mied. Aus einem Stück Weltgeschichte wurde eine blasse Sozialutopie. Die Grundlagen einer Weltreligion hatten sich in nichts aufgelöst.

 

Die protestan­tische Theologie löste das Problem, indem sie aus Jesus ein religiöses Genie machte, der all seine Weisheit aus seiner Person heraus hervorbrachte bzw. in der religiösen Sprache: von Gott begabt war. Durch das aus der Romantik des frühen 19. Jahr­hunderts stam­men­de Geniekonzept zeigten sich die Theologen als Verfechter der These “Männer machen Geschichte”.

 

Diese These hat in der Geschichts­wissenschaft längst Staub angesetzt und ist durch neuere methodische Konzepte ersetzt worden.

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Was bedeutet die geänderte Sicht auf das Urchristentum? Die Sendung des Gottessohnes in die Welt

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wurde in der protestan­tischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als vernunftgeleitete Ent­schei­dung Gottes angesehen, sondern als eine völlig freie Willens­ent­scheidung des von allen histori­schen Zwängen befreiten souveränen Gottes. Gott hätte Jesus also auch 500 Jahre früher oder 1000 Jahre später in die Welt senden können.

 

Aus der notwendigen Vernunftwahrheit Urchristentum war eine zufällige Geschichtswahrheit Jesus geworden. Die protestantische Jesus­forschung “befreite” Person und Botschaft Jesu von allen seinen geistes­geschicht­lichen Voraussetzungen und histori­schen Begleit­um­stän­den.

 

Jesus stand plötzlich als erratischer Block in einer historischen Landschaft, mit der er nicht kommunizierte. Die Bemühungen, Jesus vom Judentum her zu verstehen, konnten diesen Eindruck nicht wirklich entkräften.

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Dann kam der Erste Weltkrieg, danach war alles anders. Der christliche Kulturkonsens

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wurde infrage gestellt. Die Geschichte wurde nicht mehr als von Vernunft geleitete Entwicklung verstanden, sondern als chaotische Entwicklung. Die protestantische Theologie hielt an der Vorstellung fest, dass Gott die Geschichte lenkt, die aber offenbar nicht mehr vernunft­geleitet, sondern chaotisch ablief.

 

Sie konnte den “Willen Gottes” deshalb nicht mehr als historische Zwangs­läufigkeit verstehen, sondern betonte das Erratische im Willen Gottes, die Freiheit Gottes und stellte Gott der chaotischen Welt und Weltgeschichte gegenüber.

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Wenn die Umwandlung des Römischen Reiches in eine kaiserliche Monarchie durch die historischen Umstände bedingt,

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also geschichtsnotwendig war, war die Entstehung des Christentums am östlichen Rand des Imperiums, an der Konfliktlinie zu den Parthern, die den Orient beherrschten, nicht ebenfalls durch die historischen Umstände bedingt, also geschichtsnotwendig? Paulus und die frühen Christen sahen es jedenfalls so und nannten die erlebte und beobachtete Zwangsläufigkeit der Ereignisse den “Willen Gottes”.

 

Die Entste­hung, Entfaltung und historische Entwicklung des Christentums hatte bis zum deutschen Idealismus und zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts als Vernunftwahrheit gegolten, bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel als Entfaltung des – natürlich christlich gedachten – Weltgeistes in der Geschichte.

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Die frühen Christen machten den Wechsel des Zeitalters am Wechsel des Frühjahrssternbildes

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weg vom Widder hin zu den Fischen fest. Was sagen die Historiker? Im Zeitalter Konstantins fällt die Aussage nicht schwer, das Christen­tum des 4. Jahrhundert n. Chr. habe die besten Vor­aus­setzungen für eine reichsweite Religion mitgebracht.

 

Aber das Urchristentum des 1. Jahrhunderts n. Chr., eine kleine jüdische Sekte, so unbedeutend, dass Flavius Josephus sie übersah? Oder müssen wir vielleicht doch umdenken? Hat Jesus selbst, nicht erst Paulus, den Grundstein gelegt für das römische Christentum? Ist das Christentum vielleicht doch mehr als ein jüdischer Ableger? Ist der religiöse Schmelztiegel Palästina, das Sammelbecken kultureller und religiöser Einflüsse vielleicht doch der zwangsläufige Nähr­boden einer neuen Religion?

 

Ist das Zeitalter des Augustus, der das im Bürgerkrieg versunkene Imperium in ein Kaiserreich umgestal­tete und neue soziale Maßstäbe setzte, möglicherweise der zwingende Grund, eine neue Religion ins Leben zu rufen? Könnte das kleine Galiläa, wo sich der Zusammenprall der Kulturen des Ostens und des Westen, wie im Modell und viel früher als im römischen Gesamtreich ereignete und wo ein Ausgleich viel früher notwendig wurde, ein kulturelles und religiöses Modell für das Römische Reich abgegeben haben, das mit denselben Konflikten erst später konfrontiert wurde?

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Notwendige Vernunft- und zufällige Geschichtswahrheiten

Das eigentliche Problem, das der Historiker des Frühchristentums lösen muss, liegt aber tiefer. Wenn das Christentum

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nicht durch eine höhere Macht gesetzt ist, ist seine Entstehung dann zufällig oder geschichtsnotwendig? Ist es, um mit Lessing zu sprechen, eine zufällige Geschichtswahrheit oder eine notwendige Vernunft­wahrheit? Anders formuliert: Ist die Entstehung des Christentums ein zwingendes Erfordernis der Zeit oder ein eher zufälliges Ereignis?

 

Paulus sagt in Epheser 1,10, Gott sandte seinen Sohn, als der rechte Zeitpunkt dafür, der Kairos, erfüllt war. Das Neue Testament ist wohl der Meinung, es sei die freie Willens­entschei­dung der Gottheit, die Menschheit durch seinen Sohn Jesus zu retten, Gott habe sich allerdings durch seine Güte sozusagen in Zugzwang gesetzt, sein Vorhaben auch auszuführen.