259

Darwin beschreibt in der Abstammung des Menschen die Höher­entwick­lung des Menschen

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


als Zusammenspiel von biologischen und kulturellen Faktoren. Das Gehirn der Vor- und Frühmenschen wird größer, gleich­zeitig und in gegenseitiger Abhängigkeit steigen die kulturellen Leistungen an. Beim Gehirnwachstum geht es um biologische und vererbliche Faktoren, die kulturellen Leistungen sind nicht vererblich, sie müssen Generation für Generation neu erlernt werden.

Der kulturelle Sprach­erwerb setzt die biologische Ausstattung der Individuen dazu voraus. Das Kleinkind, dem die biologische Ausstattung zur Sprachartikulation oder die Fähigkeit zu hören fehlt, kann die Sprachfähigkeit nicht erwer­ben.

Darwin sagt auch nichts über die biologischen Mechanismen, die die höheren Affen plötzlich auf die Spur gesetzt hätten, um menschliche Wesen zu werden. Er vertraut offenbar dem hegelschen, sich selbst entfaltenden Geist, der irgendwann über die höheren Affen gekommen ist wie der Heilige Geist über die Jungfrau Maria.

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258

Hier muss ich den Begriff Emergenz einführen.

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Komplexe Systeme lassen sich nicht mit der Beschreibung ihrer Teile erklären. Auch die noch so genaue Kenntnis der Einzelteile kann nicht zum Verständnis des Systems führen. Dieses Phänomen nennt man Emergenz, d. h. das Auftreten neuer Eigenschaften, die sich nicht aus den Eigenschaften der Teilsysteme ergeben.

Eine große Bedeutung hat die Emergenz bei der Frage gespielt, ob man biologische Systeme, z. B. die Zelle, mit dem Theoriegebäude der Physik oder der Chemie erklären kann. Die Antwort: So wichtig das Verständnis physikalischer und chemischer Vorgänge in der Zelle für das Gesamtverständnis auch ist, kann es doch allein das biologische System Zelle nicht erklären.

In der Zelle gibt es emergente biologische Eigenschaften, die nur mit dem Theoriegebäude der Biologie erklärbar sind. Das gleiche gilt auch für Geist und Kultur des Menschen; es handelt sich beim Menschen und seiner Kultur um ein hoch komplexes System mit gegenüber seinen biologischen Teilen emergenten Eigenschaften.

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257

War das Dilemma des viktorianischen Gentlemans auch Darwins Dilem­ma, ist es auch unser Dilemma?

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Ich meine, die Antwort auf diese Fragen muss ein klares Ja sein. Der viktorianischen Gentleman Charles Darwin wusste, dass der Mensch von äffischen Vorfahren abstammte, anderer­seits war zu sehr ein Kind seiner Zeit, um nicht den tiefen Graben zwischen Mensch und Tier zu betonen.

Wenn er nicht wie seine ideolo­gischen Gegner den Geist des Menschen einem göttlichen Schöp­fungsakt zuschreiben mochte, so konnte er doch im hegelschen Sinne an die Selbstentfaltung des Geistes glauben.

G. F. W. Hegel hatte in der Phänomenologie des Geistes die Ent­wicklung der menschlichen Kultur als die Selbst­entfal­tung des Geistes in der Geschichte über die Stationen Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist, Religion und Kunst bis zum absoluten Wissen darge­stellt.

In der gegenseitigen Befruchtung von Gehirn und Geist bei Dar­win entfaltete sich der Geist wie bei Hegel, sobald die körperlichen Bedingungen, insbesondere die Gehirngröße der Vor- und Frühmen­schen bis zum Homo Sapiens es zuließen. Darwin übersah aber, dass nach seiner Evolutionstheorie die Entwicklung nicht zielge­richtet, nicht finalistisch, sondern ergebnisoffen ist.

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256

These 6

Ergebnis

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Die bisherigen Versuche, die Evolution des menschlichen Gehirns und des menschlichen Geistes zu erklären, sind gescheitert. Denn ihnen allen ist gemeinsam, dass menschliche Charakteristika wie Arbeit, Sprache, Kultur, Bewusstsein, die alle am Ende der Evolution zum Menschen stehen, zugleich auch als Ursache der Menschwerdung, das heißt am Beginn der Menschwerdung stehen sollen.

Alle diese menschlichen Charakteristika waren aber vor der Entstehung des Menschen nicht vorhanden und kommen deshalb als Ursache der Evolution, die zum Menschen führte, nicht in Frage.

Erläuterung:

Kein anderer Gedanke war der viktorianischen Mentalität mehr zuwider als der daß der Mensch von Affen abstammen könne. Selbst wenn die Evolution für alle anderen Organismen nachgewiesen werden konnte, so mußte doch gewiß der Mensch mit all seinen einzigartigen menschlichen Merkmalen aus einem besonderen Schöpfungsakt hervorgegangen sein.

Sogar A. R. Wallace weigerte sich, sehr zur Verzweiflung Darwins, der natürlichen Auslese das Verdienst der Evolution des Menschen zuzugestehen.
(Mayr 2002, S. 499)

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255

3. Das menschliche Gehirn muss auf andere Weise entstanden sein.

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Eine Lösung zu kritisieren ist natürlich einfach und macht nur dann Sinn, wenn man eine bessere Lösung anzubieten hat. Daran scheiterten die bisherigen Lösungsversuche, dass Alternativen für das Münch­hausen­modell nicht gesucht oder nicht gefunden wurden.

Wenn der menschliche Geist bzw. die Kultur nicht der entscheidende Faktor war, der die Entwicklung des menschlichen Gehirns voran­getrieben hat, was war es dann? Da es nach der Theorie keine zielgerichtete Evolution gibt, muss der auslösende Faktor in der Population der frühen Hominiden gesucht werden. Bei der Lösung werde ich auf Untersuchungen von Primaten­forschern zurückgreifen, ich verweise auf die Thesen 9 ff.

4. Wenn Gehirn und Geist nicht zusammen entstanden sind, entsteht ein weiteres Problem: Was veranlasste das menschliche Gehirn, neben der ursprünglichen Funktion die zusätzliche Aufgabe, Sitz des mensch­lichen Geistes, der Sprache, des Bewusstseins, der Kultur zu werden, zu übernehmen?

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254

2. Wie ist das menschliche Gehirn entstanden?

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Die Idee der Koevolution von Geist oder Kultur und Gehirn bzw. die gemeinsame und sich gegenseitig stimulie­rende Entwicklung von Geist/Kultur und Gehirn erinnert mich immer an den Freiherrn K. F. H. von Münchhausen. In seiner Wunderbaren Reise zu Wasser und zu Lande erzählt er die Geschichte, wie er sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, in den er hineingeraten war.

Die Erzählung wider­spricht den elementaren Gesetzen der Physik (es fehlt der archime­dische feste Punkt), aber das störte weder den Erzähler noch seine Leser. Bei der Idee der Koevolution geht es seit Darwin darum, dass nach dem bedauerlichen Verlust des christlichen Schöpfergottes der menschliche Geist dessen Rolle übernimmt, sich am geistigen Schopf packt und sich und das Menschengehirn aus dem Sumpf der tierischen Geistlosigkeit herauszieht.

Anders gesagt: Der menschliche Geist und/oder die Kultur sollen die Evo­lution des Affen­gehirns zum menschlichen Gehirn fina­listisch über­wacht haben. Da keine andere Lösung verfügbar war, wurde übersehen, dass mit dieser Lösung Darwin selbst und seine Nachfolger der darwinschen Evolutionstheorie widersprachen.

253

These 5

Funktionswechsel des Gehirns

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Das menschliche Gehirn als evolutive Neuheit kann nicht als biologische Basis des menschlichen Geistes entstanden sein. Das menschliche Gehirn muss auf andere Weise entstanden sein und wurde als fertiges Organ durch einen Funktionswechsel sekundär für die Tätigkeit des menschlichen Geistes verwendet.

Erläuterung:

1. Ist das menschliche Gehirn eine evolutive Neuheit? Wie wir gesehen hatten, bestreitet Darwin den prinzipiellen Unterschied zwischen Tier­seele und Menschenseele:

Aber wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller. (Darwin 2009, S.156)

Ernst Mayr pflichtet Darwin darin bei:

Wenn man als charakteristische Merkmale des Menschen Kriterien wie Bewußtsein oder Besitz von Geist und Intelligenz angibt, so hilft uns das nicht sehr viel weiter, da gute Beispiele dafür vorliegen, daß sich der Mensch hinsichtlich dieser Merkmale lediglich quantitativ von den Menschen­affen und vielen anderen Tieren (selbst dem Hund!) unter­scheidet. (Mayr 2002,S. 500)

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252

Wie eine Funktionsverschiebung funktioniert, beschreibt Mayr anschlie­ßend wie folgt:

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989

Während einer solchen Funktionsverschiebung durchläuft eine Struktur immer eine Phase, in der sie gleichzeitig zwei Funktionen ausüben kann, wie die Antennen von Daphnia, die gleichzeitig Sinnesorgan und Schwimmruder sind. Diese Dualität der Funktion ist möglich, weil der Genotyp ein höchst komplexes System ist, das immer auch gewisse Aspekte des Phänotyps produziert, die nicht unmittelbar durch die Auslese gefördert werden, sondern einfach "Nebenprodukte" des von der Selektion begünstigten Genotyps sind.


Solche Nebenprodukte stehen dann für den Erwerb von neuen Funktionen zur Verfügung. Sie sind es, die es den vorderen Gliedmaßen (mit einer Flughaut) eines Tetrapoden gestatten, als Flügel zu fungieren, oder der Lunge eines Fisches, als Schwimmblase. Es gibt im Phänotyp jedes Organismus zahlreiche "neutrale Aspekte", die von der natürlichen Auslese "zugelassen", d. h. nicht beseitigt werden, die aber auch nicht spezifisch durch sie begünstigt worden sind.

Derartige Komponenten des Phänotyps stehen zur Übernahme neuer Funktionen zur Verfügung. Verschiebungen in der Funktion sind auch von Makromolekülen und Verhaltensmustern bekannt, zum Beispiel, wenn bei bestimmten Enten das Gefiederputzen zu einem Teil des Werbeverhaltens wird.
(Mayr 2002, S.491

Über die Intensivierung der Funktion eines vorhandenen Organs schreibt Mayr weiter:

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251

These 4

Evolutive Neuheiten

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Evolutive Neuheiten entstehen nach Darwin und Mayr durch eine Funktionsverschiebung vorhandener Organe, die dabei gleichzeitig zwei Funktionen ausüben können, nicht aber durch die selektive Begünsti­gung eines neuen, noch nicht funktions­fähigen Organs.

Erläuterung:

Nach der Theorie von Charles Darwin vollziehen sich die evolutionären Veränderungen in sehr kleinen Schritten.

Nach dem Vorbild des Gradualismus in der Geologie, wo mehrere Kilometer hohe Gebirge in Millimeter-Schritten aufgefaltet werden und der heute Hunderte von Kilometern breite Atlantische Ozean sich infolge der Platten­verschie­bung jährlich nur wenige Zentimeter öffnet, erfolgt die Evolution von Lebewesen in denkbar kleinen Schritten von einer Generation zur nächsten.

Bei der Veränderung der Größe, der Farbe und anderer Merk­male, die einen fließenden Übergang gestatten, bietet die Vorstellung der allmählichen Änderung keine Schwierigkeiten. Aber wie sieht es aus, wenn aus dem Fisch plötzlich ein Landtier wird, wo kommen plötzlich die Beine zur Fortbewegung, die Lunge zum Atmen, die nicht austrocknende Haut her?

Wenn ein kleiner Raubsaurier zum Vogel wird, woher hat er plötzlich federbewehrte Flügel, um sich in die Lüfte zu erheben?

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250

Die Idee, das Wachstum des menschlichen Gehirns

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


in der Evolution zu seiner heutigen Größe sei durch geistige Leistungen des Vor- und Früh­menschen angeregt worden und es gäbe so etwas wie eine Koevolution von Gehirn und Kultur, die Darwin selbst in der Abstammung des Menschen vorträgt, kann nicht richtig sein, weil sie einem finalistischen Evolutions­konzept verhaftet ist.

Eines ist allerdings nicht von der Hand zu weisen: Die heute gängigen Theorien der Evolution des Menschen folgen alle dem falschen darwinschen Konzept. Nicht nur Merlin Donald, auch Michael Tomasello und alle anderen weisen dem Geist, der Sprache, der Kultur des Men­schen eine entschei­dende Rolle bei der Entstehung des menschlichen Gehirns zu.

Neben der Sprache werden vor allem die Arbeit, die Herstellung von Steinwerk­zeugen, die Zusammenarbeit in der vor- und früh­mensch­lichen sozialen Gruppe als entscheidender Faktor auf dem Wege zum Menschen angesehen.

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249

Der Mensch unterscheidet sich körperlich neben dem aufrechten Gang insbesondere

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


durch das relativ größte Gehirn von den Tieren. Für den Evolutionsbiologen ist der Grund der Entstehung dieses Organs, das sehr viel Energie verbraucht und deshalb, wie unten noch ausgeführt wird, ein sehr aufwendiges, ein sehr teures Organ ist, eine zentrale Frage.

Der Aufwand, den die menschlichen Individuen für das Organ Gehirn treiben müssen, spielt bei Darwin, soweit ich sehe, keine Rolle. Er überträgt das Prinzip des Gradualismus, der allmählichen Verände­rung von der biologischen Evolution auf die Evolution des Menschen, des menschlichen Gehirns, der Kultur, der Sprache usw.

Während aber die biologische Evolution ergebnisoffen, also nicht zielorientiert ist, so wie es nach der Theorie sein muss, kommt bei der Evolution des menschlichen Gehirns, der Sprache, der Kultur eine Zielfunktion ins Spiel: Wenn die Sprache, die Kultur des Menschen auch in ihren Frühformen das Gehirn anregten, der Evolution eine Richtung hin zu einem menschliches Gehirn zu geben, dann läge eine zielorientierte, eine finalistische Komponente der Evolution vor.

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248

Um die Überlegungen Darwins zu den nur graduellen Unterschieden zwischen den geistigen Fähigkeiten

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


zwischen Mensch und Tier zu würdigen, muss ich etwas weiter ausholen.

Als man in der Zeit der Aufklärung erkannte, dass die Welt nicht immer so beschaffen war, wie sie heute ist, war die erste und mit dem damaligen Weltbild konforme Erklärung, die alte Welt, die man hier und da in Form von Knochen ausgestorbener Tiere entdeckt hatte, sei die erste Schöpfung gewesen, die in der in der Bibel erzählten Sintflut untergegangen sei.

Daraus entstand die Katastrophentheorie, die Vorstellung, es hätte mehrere Schöpfungsakte gegeben, und die Welt sei dazwischen durch Sintfluten oder ungeheure Vulkanausbrüche und Erdbeben unter­gegangen. In der Geologie hatte man aber zur Zeit Darwins erkannt, dass viele Prozesse in der Natur nicht katastrophisch ablaufen, sondern allmählich und in kleinen und kleinsten Schritten.

Der schottische Geologe James Hutton hatte an bekannten Überresten aus römischer Zeit Erfahrungen damit gesammelt, wie langsam geologische Vorgänge vonstatten gehen und er hatte erkannt, dass die geologischen Verwer­fungen, die an den Küsten seiner schottischen Heimat zu beobach­ten waren, ungeheure Zeiträume in Anspruch nehmen mussten. So entstand die Theorie des Gradualis­mus, die die Veränderungen in der Welt auf einen kontinuierlichen, allmählichen Wandel zurückführte.

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247

Merlin Donald verwendet den Begriff der Koevolution

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


nicht in diesem streng biologischen Sinn, wenn er schreibt:

Unser Gehirn hat sich in Koevolution mit der Kultur entwickelt (S. 15)

Bei Donald geht es nicht um zwei selbständige Lebewesen, nicht um gegenseitigen Selektionsdruck, sondern ein gegenseitiges Profitieren von Kultur und Gehirn. Wäre die Kultur wie das Gehirn ein Organ des Menschen, könnte man von einer Symbiose sprechen. Unabhängig von den Begriffen ist aber deutlich zu erkennen, worum  es Donald geht.

Das menschliche Gehirn, so seine These, hat sich gemeinsam mit der menschlichen Kultur entwickelt, Gehirn und Kultur sind aufeinander angewiesen. Donald kann sich dabei auf Charles Darwin berufen, der in der Abstammung des Menschen ausführte:

Ein großer Schritt in der Entwicklung des Intellekts muß erfolgt sein, sobald die halb künstliche und halb instinktive Sprache in Gebrauch kam; denn der beständige Gebrauch der Sprache wird auf das Gehirn zurückgewirkt und eine vererbliche Wirkung hervorgebracht haben; und dies wiederum wird der Vervollkommnung der Sprache zugute gekommen sein.

Wie Chauncey Wright richtig bemerkt hat, mag die Größe des menschlichen Gehirns im Vergleich zu seinem Körper, verglichen mit dem Gehirn tiefer stehender Tiere, zum großen Teil dem frühen Gebrauch einer einfachen Form von Sprache zu verdanken sein (…) Die höheren intellektuellen Fähigkeiten, wie das Schließen, Abstra­hieren, das Selbstbewußtsein usw., entstanden wahrscheinlich aus der be­stän­digen Vervollkommnung und Übung der anderen geistigen Fähig­keiten. (S. 255).

An anderer Stelle derselben Abhandlung schrieb Darwin:

Aber wie groß auch der Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und der höheren Tiere sein mag, er ist doch nur ein gradueller und kein prinzipieller.

Wir haben gesehen, daß die Gefühle und Anschauungen, die verschiedenen Affekte und Fähigkeiten, wie Liebe, Gedächtnis, Aufmerk­samkeit, Neugierde, Nachahmungstrieb, Überlegung usw., deren sich der Mensch rühmt, in ihren Anlagen und manchmal auch in einem ziemlich entwickelten Zustand in den Tieren vorhanden sind. Sie sind auch einer gewissen vererblichen Vervollkommnung fähig, wie der Hund im Vergleich zu Wolf und Schakal beweist. (S. 156f)

246

These 3

Keine Koevolution von Geist und Gehirn

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


Die bisherigen Erklärungen zur Entstehung des menschlichen Geistes, der menschlichen Kultur gehen alle von einer Koevolution von Geist und Gehirn aus, wobei Geist und Gehirn die Evolution des jeweils anderen beeinflusst haben (Beispiele für Koevolution: Insekten und Blüten, Löwe und Gazelle).

Diese Erklärungen widersprechen dem Verbot der zielgerichteten Evolution (These 2) und sind deshalb abzulehnen. Der menschliche Geist ist eine evolutive Neuheit und kann deshalb nicht auf dem Wege der Koevolution entstanden sein.

Erläuterung:

Johannes Steidle definiert den Begriff Koevolution in seinem Beitrag zu dem Sachbuch Evolution wie folgt:

Coevolution liegt dann vor, wenn zwei oder mehr Arten gegenseitig ihre Evolution beeinflussen. Dies geschieht, indem jede Art einen Selektionsdruck auf die andere Art ausübt und sich selbst als Reaktion auf den Selektionsdruck der anderen Art verändert. Die Folge von Coevolution ist die Coadaptation der beteiligten Arten, d. h. die Arten sind aneinander angepasst. (Johannes Steidle, 2009: Coevolution, in: Schmid, Ulrich und Günter Bechly (Hrsg.): Evolution. Der Fluss des Lebens, Stuttgart, S. 81-88, S. 81)

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245

Evolution kann nur so beschrieben werden, dass die Vorteile von im Entstehen begriffenen

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989


oder sich verändernden Organen auf jeder Entwicklungsstufe deutlich werden können.

Ein Federkleid, das – wie das Fell der Säugetiere – dem Erhalt der Körperwärme dient und erst viel später Federn zum Gleiten und zum aktiven Fliegen ausbildet, ist im Sinne der Evolution plausibel, weil der Auslesevorteil auf jeder Stufe der Evolution, in jeder Generation der Lebewesen sichtbar wird.

244

These 2

Evolution nicht zielgerichtet

Vase aus dem archäologischen Museum, Cusco, Peru
Vase aus dem archäologischen Museum, Cusco, Peru


Nach Darwin ist die biologische Evolution ergebnisoffen und nicht etwa zielgerichtet, das heißt sie kann nicht von ihrem Zielpunkt aus verstanden werden, sondern nur von ihrem Ausgangspunkt. Es muss eine kausale Argumentationskette, ausgehend vom Ausgangspunkt, aufgebaut werden. (Beispiel: die Vogelfedern sind nicht entstanden, um den Vögeln das Fliegen zu ermöglichen.)

Erläuterung:

Ernst Mayr schreibt dazu in seinem großen Werk über Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt (2002):

Darwins Theorie lehnte die Existenz eines finalistischen Faktors bei der Verursachung des evolutionären Wandels kompromißlos ab (S. 417)

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243

Zur Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich gehört nach Darwin auch

Plaza de Armas, Cusco, Peru
Plaza de Armas, Cusco, Peru


die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten beim Menschen. Er schreibt dazu:

Wenn außer Menschen kein organisches Wesen irgendeine geistige Kraft aufwiese, oder wenn unsere Kräfte grundverschieden von denen der Tiere wären, so würden wir uns nie davon überzeugen können, daß sich unsere hohen Fähigkeiten stufenweise entwickelt hätten.

Aber es läßt sich zeigen, daß ein fundamentaler Unterschied dieser Art wirklich nicht besteht. Müssen wir doch zugeben, daß zwischen den Geisteskräften niederer Fische, einer Lamprete z. B. oder eines Lanzettfisches, und denen eines hochentwickelten Affen ein viel weiterer Abstand besteht als zwischen dem Affen und dem Menschen. (S. 81)

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242

I.       Das Problem

These 1

Der Mensch: ein biologisches Wesen

La Compania, Cusco, Peru
La Compania, Cusco, Peru


Der Mensch ist als biologisches Wesen Teil der Natur und hat sich wie alle anderen Lebewesen im Rahmen der Evolution entwickelt. Auch die Entwicklung des menschlichen Geistes kann deshalb sachgerecht nur auf der Grundlage der darwinschen Evolutionstheorie erklärt werden.

Erläuterung:

Im Jahre 1758 nahm Carl von Linné den Menschen in sein bis heute grundlegendes taxonomisches Werk Systema Naturae auf. Er stellte den Menschen ganz selbstver­ständ­lich neben seine nächsten tierischen Verwandten, die Menschenaffen, und fasste beide in einer Ordnung zusammen, die er später Primates (Herrentiere) nannte.

Gegen Kritik an dieser Vorgehensweise verteidigte er sich mit dem Argument, er könne keine signifikante Differenz zwischen den Skeletten von Menschen und denen von Menschenaffen finden.

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241

Der Kanadier Merlin Donald glaubt nachweisen zu können, dass Kultur und Gehirn des Menschen

Erzbischöflicher Palast, früher Inka Roca Palast Cusco, Peru
Erzbischöflicher Palast, früher Inka Roca Palast Cusco, Peru


sich gemeinsam in Koevolution entwickelt haben.

Der in Deutschland, in Leipzig forschende Amerikaner Michael Toma­sello sieht in der gemeinsamen Arbeit, der zielgerichteten gemeinsamen Tätigkeit den entscheidenden Anstoß auf dem Weg zu einer mensch­lichen Kultur.

Damit sind zwei Exponenten genannt, die Konzepte für die Evolution des menschlichen Geistes ausgearbeitet haben, Donald von einem idealistischen philosophischen Standpunkt aus, Tomasello ausgehend von der Verhaltensforschung, beide berufen sich auf die darwinsche Evolutionstheorie und auf die neuesten wissenschaftlichen Erkennt­nisse über die Evolution.

Beide Theorien sind hoch interessant und in vieler Hinsicht lehrreich, allgemeine Anerkennung, die mit der Anerken­nung der körperlichen Evolution des Menschen vergleichbar wäre, hat keine der beiden Theorien gefunden.

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240

Ungezählte Funde sind inzwischen hinzuge­kom­men, zuletzt wurde aus den versteinerten Überresten verschiedener Indivi­duen

Plaza de Armas, Cusco, Peru
Plaza de Armas, Cusco, Peru


das Skelett eines Bindegliedes zwischen Affe und Mensch rekonstruiert. Ardipithecus ramidus (Ardi), so wurde diese Spezies von Tim White und seinen Ent­deckerkollegen genannt, wurde auf ein Alter von ca. 4,4 Mio Jahren datiert und konnte ausweislich der gefundenen Fußkno­chen aufrecht gehen.

Obwohl über die Einzelheiten des menschlichen Stammbaums oder, wie man heute zu­treffender sagt, des menschlichen Stammbuschs weiter heftig gestritten wird und jeder neue Fund Korrekturen verlangt, sind sich die betei­ligten Wissen­schaftler über die grundsätzlichen Fragen über­raschend einig.

Dabei spielt auch die Molekularbiologie eine wichtige Rolle, die mit Analysen des Erbguts insbesondere von heute lebenden Menschen und Men­schen­­affen die Ergebnisse der Spatenforschung bestätigen und ergän­zen konnte.

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