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Die Bibel ohne die Hypothese Gott erklären

Mein Ziel ist eine wissenschaftliche Erforschung

Island
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und Darstellung der jüdisch-frühchristlichen Ereignisgeschichte, der Religions­- und Literatur­geschichte der Bibel. Worin besteht der Unterschied zur theolo­gischen Erforschung der Bibel? Ich suche nach wissen­schaft­lichen Ergebnissen, die für christ­liche und atheistische Wissen­schaftler gleichermaßen plausi­bel sind. Vor allem versuche ich Bibel und Urchristentum ohne die Hypothese Gott zu erklären.

 

Deshalb ist für mich das Argument, nur Christen könnten die Wahrheit und Schönheit des christlichen Glaubens verstehen, kein wissen­schaftliches Argument. Deshalb ist für mich das Argument, es gäbe nur christliche Quellen über das Urchristentum und deshalb müssten wir die christliche Anschau­ung dieser christlichen Quellen übernehmen, nicht nachvollziehbar.

 

Die mir gestellte Aufgabe formuliere ich so: Erforschung und Darstellung der Entstehung der Bibel und des Urchris­tentums hinsichtlich Ereignis-, Ideen- und Litera­tur­geschichte als inner­welt­liches Geschehen.

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(Fortsetzung 3) 4. Sigmund Freud beschreibt den Menschen als Kräfte­dreieck von ICH, ES und ÜBERICH. In der Psychologie

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kann man natürlich auch viele andere Formulierungen antreffen, auf die Einzelheiten kommt es nicht an. In den Beschreibungen der biblischen Personen wird häufig gegen grundlegende Regeln der psychologischen Beschreibung von Menschen verstoßen, so dass die historische Glaubwürdigkeit des Erzählten leidet.

 

Eine moderne Ergänzung psychologischer Eigenschaften führt aber häufig zu romanhafter Ausschmückung, die von dem in den Texten überlieferten Sachverhalt abweicht. So wird aus Petrus der engagierte, schnell jähzornige Jünger, aus Jesus der überaus liebenswerte Messias. Beides trifft den historischen Sachverhalt nicht.

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(Fortsetzung 2) 3. Peter L. Berger und Thomas Luckmann verdanken wir die Einsicht, dass die Wirklichkeit

Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011

stets “gesellschaftlich konstruiert”, also sozial vermittelt ist. Das trifft natürlich auch auf unsere biblischen Autoren zu. Die religiöse Wirklichkeit, die sie beschreiben, folgt den sozialen Konventionen ihrer Zeit, die uns heute in vielen Fällen nicht mehr geläufig sind und deshalb erforscht werden müssen.

 

Dabei ist der Unterschied von mündlicher und schriftlicher Überlieferung zu beachten. Solange Traditionen mündlich überliefert werden, können sie im Wortlaut verändert werden. Sobald eine schriftliche Fixierung erfolgt ist, kann eine Bedeutungsänderung nur noch über die Auslegung der Tradition erfolgen.

 

Da der schriftlichen Fixierung der Evangelien und der Apostelgeschichte eine lange Zeit mündlicher Tradition vorausge­gangen ist, ist vor der Verschriftlichung mit Anpassungen an das sich wandelnde frühchristliche Bewusstsein zu rechnen.

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(Fortsetzung) 2. Am Anfang suchte ich immer nach dem historischen Sachverhalt. Dann wurde ich

Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
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von befreundeten Theologen darauf aufmerksam gemacht, dass wir in der Bibel zunächst einmal Literatur vor uns haben, die mit anderer Literatur verglichen werden kann und muss (Intertextualität). Die Frage nach der Geschichte entsteht erst auf der zweiten Ebene.

 

Das veranlasste mich, mich eingehend mit der antiken Literatur und Philologie zu beschäftigen. Homer, Vergil, Ovid, Lucan und andere heidnische Autoren waren die Schul­autoren der antiken Zeit und Homer der Schul­autor unserer Griechisch schreibenden neutestamentlichen Schriftsteller.

 

Der Vergleich mit ihren Werken zeigt, dass die Evangelien und die Apostelgeschichte keineswegs unliterarische Erinnerungen sind, sondern dass sie in Kenntnis und in Nachahmung der literarischen Konventionen ihrer Zeit geschrieben wurden.

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Ich vertiefte mich erneut in die biblischen Schriften. Dabei und bei meinen späteren Studien halfen mir vier Hinweise:

Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
  1. Bei Gottfried Schille in Leipzig, der vielen bekannt ist durch seinen Kommentar zur Apostelgeschichte, hatte ich gelernt, dass die in den Evangelien und in der Apostelgeschichte verarbeiteten Überlie­ferungen häufig einen ganz anderen Tenor haben als der endgültige Text der biblischen Schrift.

 

Wenn man die Überlieferungen innerhalb der Evangelien und der Apostelgeschichte “gegen den Strich bürstet”, kommen also ganz neue Überlieferungsschichten zu Tage.

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1975 siedelte ich in die Bundesrepublik über und studierte von 1975 bis 1979 in Mainz und

Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011

Hamburg Geschichte, wobei mich das Nebenfach Geschichte der griechisch-römischen Antike wieder mit der Jesus-Geschichte konfrontierte.

 

Anders als Bultmann behauptet hatte, war das 1. Jahrhundert nach Christus kein mythologisches Zeitalter, sondern eine nachmythologische, aufgeklärte Epoche, in der Wissenschaft und Philosophie blühten und die Dichter die traditionellen mythologischen Bilder verwen­deten, um verklausuliert delikate Gegenwartsprobleme zu behandeln.

 

Waren die Wunder Jesu und die Auferstehung Jesu doch historisch? Und wenn ja, wie waren sie zu verstehen?

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Meine Thesen zur Bibel haben eine lange Vorgeschichte. Aufgewachsen in einem evangelischen Pfarrhaus und konfrontiert

Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011
Morteratsch-Gletscher, Pontresina, Oberengadin 2011

mit der atheistischen Ideologie der DDR, interessierte ich mich schon als Schüler für die historischen Grundlagen der biblischen Erzählun­gen. Mein Vater hatte während des Krieges Chemie und erst nach dem Krieg Theologie studiert, in seinem Arbeitszimmer hingen statt der erwartbaren Heiligenbilder Fotographien von Albert Einstein und anderen Nobelpreisträgern, die den naturwissen­schaftlichen Fort­schritt des 20. Jahrhunderts repräsentierten.

 

Die wissen­schaftliche Sorgfalt, mit der mein Vater auch Theologie betrieb, hat mich mehr beeinflusst als seine im Grunde pietistische Frömmigkeit. Als ich von 1968 bis 1973 in Leipzig und Ostberlin Theologie studierte, war die Bultmann’sche Entmythologisierung für mich eine Befreiung aus der Enge pietistischer Bibel­frömmigkeit. Jesu Wunder galten damals als Relikte eines antiken Weltbildes, die Auferstehung als mythologische Formulierung, die für den heutigen Menschen existenz­philosophisch übersetzt werden musste.

 

Allerdings wollte ich dann auch das Göttliche selbst philosophisch deuten und geriet dadurch in Konflikt mit der Kirche, so dass ich das Theologie­studium nur mit den fachwissenschaftlichen Fächern abschloss.