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4. Lesererwartung: Markus führt einen Dialog

Hamburg bei Nacht, Cafe Keese, 1989
Hamburg bei Nacht, Cafe Keese, 1989

mit dem Leser. Er neckt den Leser wie ein Kriminalschriftsteller, der immer neue falsche Fährten auslegt, um sich dann zu freuen, wenn der arme Krimi-Leser darauf hereinfällt.

Die Reaktionen, die Markus im Leser hervorruft, weist er dann als unangemes­sen zurück und führt den Leser so spielerisch in die Geheim­nisse des Christseins und des göttlichen Wirkens ein.

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3. Äußerlichkeit: Als ein guter Erzähler beschreibt Markus

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

den äußer­lichen Ablauf der Handlung, den der Leser selbst interpretieren muss. In 1,40 sieht man den Aussätzigen auf die Knie fallen.

Man muss befürchten, dass er aus Schwachheit oder Ungeschicktheit stürzt und den direkt vor ihm stehenden Jesus mit Krankheits­keimen infiziert.

Erst aus dem Zusammen­hang erfährt der Leser, dass der Aussätzige Jesus wie einem Herrscher kniefällig huldigt.

Matthäus verwen­det den Fachausdruck Proskynese für den Kniefall vor den Herrscher und bringt den Leser damit um die Spannung, die Markus so geschickt aufbaut.

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Theater 4: In Markus 1,42 läuft der Aussatz vom Kranken weg

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

wie Jakobus und Johannes von ihrem Vater Zebedäus in 1,20 weglaufen. Man hat den Eindruck, Markus denkt dabei an eine Theaterszene, in der der Kranke die alte Haut mit dem Aussatz wie ein altes Kleid trägt.

Im 1,42 kommt ein anderer Schau­spieler und nimmt das alte Kleid (die alte Haut) weg und darunter kommt die neue reine Haut als schönes neues Kleidungsstück zum Vor­schein

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Theater 3: Aussätzige und Gesunde begegnen sich

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

im realen Leben nicht, 3. Mose 13,45, nur auf der Theaterbühne treffen sie aufeinander. Dass ein Aussätziger mit Jesus zusammen­trifft 1,40, ist nur im Theater möglich.

Während sich der Aussätzige Jesus straflos nähern darf, spürt Jesus die Hilflosigkeit des Lahmen scheinbar nicht, 2,4. Die Show-Einlage, den Kranken vom Dach her­ab­zulassen, wirkt im realen Leben merkwürdig.

Mit der Theatertechnik, auch der antiken, war das leicht möglich. Für die Zuschauer war es ein Gaudi, das in der Erinnerung haften blieb und die Botschaft trug. Darauf kam es Markus an.

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Theater 2: Bei Matthäus steht nicht mehr ein taufender Johannes

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

in der Wüste, sondern es ist Johannes mit dem Beinamen der Täufer, der in der Wüste predigt.

Lukas, der historisch interessierte Evangelist, erwähnt die Wüste nur noch als Ort der göttlichen Weisung an Johannes und lässt den Täufer gleich am Jordan predigen.

Die Wüste, in der Johannes bei Markus predigt, ist also keine reale, sondern eine Theater-Wüste, die geistige Leere in den Köpfen und Herzen der Men­schen, denen Johannes die Umkehr, den Neuanfang predigt.

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2. Theater: Die Geschichten des Markus sind

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

nicht realis­tisch, sondern theatralisch, Theater im Theater, Spiel im Spiel. In Markus 1, 4 steht Johannes taufend (so wörtlich im Grie­chischen) in der Wüste.

Aber wie soll Johannes taufen, wenn er kein Wasser zum Abwaschen der Sünden zur Verfügung hat?

In 1,5, wo die Taufhandlung erzählt wird, haben schon die antiken Handschriften das Wasser ergänzt, dort heißt es: sie ließen sich im Jordan taufen.

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Symbolik 2: Die große Stille, 4,39, ist in der hellenis­tischen Philosophie Epikurs

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

und später in der ganzen antiken Philo­sophie ein Symbol für die seelische Ausgeglichenheit, die das Ziel der philo­sophischen Unterweisung ist.

Die als tatsächliche Bege­ben­heit geschilderte Sturmstillung hat also durchaus Gleich­nis­charakter. Wenn das so ist, kann man fragen: Legt Markus den Leser in der Deutung als Geschichtserzählung oder Gleichnis fest?

Oder gibt der Evangelist seinem Publikum eine Deutungsfreiheit, das eine oder das andere zu wählen? Darf der Leser entscheiden, ob er die Geschichte als real oder als Gleich­nis ansehen will?

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Erzähltechnik: Bei Markus ist jedes Wort sorgfältig gewählt, keines ist zuviel.

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

1. Symbolik: Das erste dichterische Gestaltungs­mittel ist die Symbolik. Wir werden gezwungen, uns die Frage zu stellen: Ist das Bezeichnete auch das Gemeinte?

In den Gleichnissen in Markus 4 ist das ganz offensichtlich nicht der Fall, ein Gleichnis weist über sich hinaus auf einen anderen, schwieriger zu ver­stehenden Sachverhalt.

Aber was ist Gleichnis, was Hist­orie? Ist die Stillung des Sturms, die das Gleichniskapitel krönt und abschließt, ein historischer Bericht oder ein Gleich­nis?

(Fortsetzung folgt)

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Fortsetzung 5: 6. Die Auflösung des äußeren Konflikts: Erst die tatsäch­liche Heilung

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
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bringt die Lösung des Konflikts auf der äußeren Ebene. Bei Markus folgt auf die Konfliktlösung (der Heilungs­prozess wird nicht geschildert) eine Handlungsanweisung: hier in 2,11 geht es wie in 1,44 um eine Bestätigung der tatsäch­lichen Heilung durch die jüdischen Autoritäten.

Die Bestäti­gung befreit Jesus nicht nur vom Vorwurf der Scharlatanerie, die Schrift­gelehrten, die Jesus gerade kritisierten, müssen seine Wunder­heilung nun bestätigen.

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Fortsetzung 4: 4. Die Auflösung des moralischen Konflikts: Jesus räumt

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

diese Bedenken aus, er darf heilen, und er spricht dem Kran­ken die Sünden­vergebung zu.

5. Die Auflösung des inneren Konflikts: Von dem Makel, er sei selbst schuld an seiner Krankheit, ist der Kranke nun be­freit, geheilt ist er aber noch nicht.

Ist die Sün­den­vergebung also doch nur ein frommer Spruch? Das empfin­den die Schrift­gelehrten, 2,6-7, und Jesus selbst, 2,8-9 so, deshalb be­kräf­tigt er seinen Hei­lungs­willen.

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Fortsetzung 3: Zu der äußeren Ebene (Kranker und Jesus)

Hamburg, Außenalster
Hamburg, Außenalster

und der inneren Ebene (Glaube des Kranken und Heilungswille Jesu) kommt nun eine dritte Ebene, die mora­li­sche hinzu.

Hier wird die Frage gestellt: Ist es erlaubt zu heilen, darf Jesus in die göttliche Ordnung eingreifen? Kriti­siert Jesus damit nicht die göttliche Schöpfung als unfertig?

Kriti­siert Jesus Gott damit nicht als stümperhaften Schöpfer, der dem Menschen eine halb­fertige Schöpfung hinterlassen hat, damit der Mensch sie voll­ende?

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Fortsetzung 2: 3. Der moralische Konflikt: In 2, 1-12, der detailreichsten

Hamburg, Außenalster
Hamburg, Außenalster

Heilungsgeschichte des Markus, erwartet der Leser eine schnel­le Heilung, nachdem sich die Helfer des Kranken soviel Mühe gemacht haben, diesen zu Jesus zu bringen.

Aber Jesus lässt den Leser zappeln. Wie in einem schönen Liebesroman, wo sich die Liebenden erst nach vielen Hindernissen und Missverständ­nissen in den Armen liegen, baut Markus Verzögerungen in die Handlung ein, um die Spannung zu erhöhen.

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Fortsetzung 1: 1. Der äußere Konflikt: In 1,21-28 schildert Markus

Hamburg, Goldbekkanal
Hamburg, Goldbekkanal

einen äußeren Konflikt zwischen zwei Personen. Ein Kranker (böser Geist) greift Jesus mit Worten an, Jesus muss sich wehren.

2. Der innere Konflikt: In 1,40-45 wird das Vorher­gehen­de bereits vorausgesetzt. Wie der Leser weiß auch der Kranke, dass Jesus heilen kann (1,40).

Hier geht es um den inneren Konflikt. Will der Kranke geheilt werden? Glaubt er an Jesus? Will Jesus ihn heilen oder wählt Jesus seine Patienten nach bestimmten Kriterien wie Bedürftigkeit, morali­schen Qualitäten oder Zuge­hörigkeit zum Judentum aus?

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Markus hat seine Erzähleinheiten nach einem bestimmten Sche­ma

Hamburg, Außenalster
Hamburg, Außenalster

aufgebaut, dessen Verständnis die Interpretation wesentlich erleichtert. Er führt uns das Schema mit den ersten Wunder­geschichten in 1, 21-2, 12 selbst vor.

Es  gibt drei Konflikte, den äußeren, den inneren und den morali­schen Konflikt. Diese Kon­flikte werden erst geschildert, dann in umgekehrter Reihenfolge aufgelöst.