303

Der Geist als evolutive Neuheit wurde möglich durch einen Funktions­wechsel des Gehirns,

Puno, Peru
Puno, Peru


das die Fähigkeit zur Kommunikation in einem Netz erwarb, und durch einen Funktionswechsel dieses Netzes, der es ermöglichte, die beteiligten Individuen zu motivieren und ihre Instinkte zu steuern.

Die Motivationsimpulse im Netz, die Lebensmut verleihen und ohne die die Individuen und sozialen Gruppen nicht lebensfähig sind, wurden als Keimzelle des menschlichen Geistes identifiziert. Auch die Entwicklung bis zu den Anfängen des Geistes spielt sich im Rahmen der darwinschen Evolutionstheorie ab, an ihrem Ende steht aber eine neue Existenzstufe.

Der geistbegabte Mensch verfügt über emergente Eigenschaften, für deren Beschreibung über die biologische Theorie hinaus ein eigenes Regelwerk notwendig wird.

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VI.     Zusammenfassung

These 22

Die Evolution von Gehirn und Geist

Bahnfahrt zum Titicaca-See, Peru
Bahnfahrt zum Titicaca-See, Peru


Die gestellte Aufgabe war, die Evolution des Geistes im Einklang mit der Evolutionstheorie Darwins darzustellen.

Die bisherigen Lösungs­ver­suche auf der Basis der Ko­evolu­tion von Gehirn und Geist wurden verworfen, weil der Geist das bereits fertige Gehirn sachlich und zeitlich voraussetzt und die emergenten Eigenschaften des menschlichen Geistes auf der biologi­schen Ebene der Entwicklung des Gehirns noch keine Rolle spielen können.

Die vorgeschlagene Lösung geht von einem Nacheinander der Evolution des Gehirns und der des Geistes aus. Die Entwicklung des Gehirns mit den Etappen pränatales Wachstum, post­natales Wachstum und vernetztes Gehirn kann nach den Regeln der darwinschen Evolutionstheorie plausibel erklärt werden, ohne die Einwirkung geistiger oder kultureller Faktoren zur Begründung heranzuziehen.

Die Einwirkung des Geistes wäre danach eine zusätz­liche und zur Erklärung nicht unbedingt notwendige Ursache, die nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser abzulehnen ist.

301

These 21

Ausblick

Bahnfahrt nach Machu Picchu, Peru
Bahnfahrt nach Machu Picchu, Peru


Nach den Anfängen des menschlichen Geistes beginnt die Entfaltung der menschlichen Kultur, die nicht mehr unser Thema ist.

Wie der menschliche Geist sich entwickelt, welchen Gesetzen er folgt, welche Abhängigkeit von der biologischen Natur des Menschen besteht, das sind spannende philosophische Fragen, die hier nicht diskutiert werden können.

300

Die neue Exis­tenz­stufe des Geistigen bedarf eines anderen Regelwerks,

Schulkinder, Cusco, Peru
Schulkinder, Cusco, Peru


das von den Geistes- bzw. Sozial­wis­sen­schaften erarbeitet wird, dessen Angemes­sen­heit im Detail immer wieder zu prüfen ist.

(Die Abgrenzung der Existenzstufen und das Phänomen der Emergenz werden in der philosophischen Literatur unter dem Stichwort der Schichtenlehre oder Schichtentheorie behandelt, deren bekanntester neuerer Vertreter Nicolai Hartmann ist, vgl. dazu N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre, Berlin 1940, 3. Auflage 1964.)

In These 3 habe ich die Koevolution von Kultur und Gehirn abgelehnt. Hier gibt es ein weiteres Argument für diese Ablehnung: Die Kultur gehört als emergente Eigenschaft zur Existenzstufe des Geistigen. Deshalb konnte sie, als sich das Gehirn entwickelte, das zur biologis­chen Existenzstufe gehört, noch gar nicht vorhanden sein.

Wo die Grenze zwischen den Sphären des Biologischen und des Geistigen verläuft, habe ich hier aufgezeigt.

299

Wie um 1900 die Physikalisten und die Vitalisten um die Interpre­ta­tions­hoheit biologischer Phänomene stritten,

Bahnfahrt zum Titicaca-See, Peru
Bahnfahrt zum Titicaca-See, Peru


so wird heute über die Entstehung geistiger Phänomene gestritten. Wie um 1900 die Physik, so wird heute die Biologie auf Grund ihrer Erfolge als exakte Natur­wissenschaft höher geachtet als die häufig zerstrittenen Sozial- bzw. Geisteswissenschaften.

Wie um 1900 die Physik, so ist heute die Biologie die Leitwissenschaft. Aber wie die Physikalisten um 1900, so scheitern die Biologisten heute bei der Beschreibung der komplexeren Existenz­stufe, weil sie die mit der neuen Komplexität verbundene Emergenz nicht in ihr Kalkül einbeziehen.

Das biologische Theoriensystem ist für die Beschreibung der geistigen Phänomene nur bedingt geeignet.

298

Die Lösung bot die Idee der Emergenz.

Puno, Peru
Puno, Peru


Zum Begriff schreibt Ernst Mayr:

Systeme haben fast immer die Besonderheit, daß sich die Eigenschaften des Ganzen nicht (und zwar nicht einmal in der Theorie) aus einer auch noch so vollständigen Kenntnis der Bestandteile, einzeln genommen oder in anderen Teilkombinationen, ableiten lassen.

Man bezeichnet dieses Auftreten neuer Eigenschaften in einem Ganzen als Emergenz und zieht diesen Begriff häufig bei dem Versuch heran, so schwierige Phänomene wie Leben, Geist und Bewußtsein zu erklären. Tatsächlich ist die Emergenz für inorganische Systeme nicht weniger charakteristisch.
(Mayr 2002, S. 52)

Biologische Organismen sind komplexe Systeme mit neuen Eigen­schaften, die ein neues Regelwerk erfordern, nämlich eine eigenständige biologische Theorie. Achim Stephan nennt in seinem Buch über die Emergenz (Paderborn, 3. Aufl. 2007) vier Merkmale emergentistischer Theorien (S. 14 – 25):

1. Naturalismus: nur natürliche Faktoren spielen in der Evolution eine Rolle,
2. Neuartigkeit: es entsteht etwas genuin Neuartiges,
3. Systemische Eigenschaften,
4. Hierarchie der Existenzstufen: insbesondere die Bereiche des Mate­riel­len, des Biologischen und des Geistigen.

297

These 20

Emergenz

Altstadt Quito, Ecuador
Altstadt Quito, Ecuador


Mit dem Netz wird eine neue, über die biologische Sphäre hinaus­gehende Existenz­stufe mög­lich (Emergenz).

So wie biologische Sach­verhalte nicht ange­mes­sen mit den Theorien der Physik beschrieben werden können, so können geistige bzw. kultu­relle Sachverhalte nicht ange­messen mit dem Regelwerk der Biologie be­schrie­ben werden.

Erläuterung:

Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in der Erklärung biologischer Phänomene einen Konflikt zwischen Physikalisten, die alle biologischen Phänomene mit den hoch angesehenen Theorien der Physik beschrei­ben wollten, und den Vitalisten, die auf die Unzulänglichkeit physika­lischer Theorien bei der Beschreibung biologischer Vorgänge hinwiesen und die Idee einer empfindenden Seele der Organismen ins Spiel brach­ten, die aber dem vorherrschenden naturalistischen Prinzip wider­sprach.

Weder die Physikalisten noch die Vitalisten konnten sich am Ende durchsetzen. Die Vitalisten scheiterten an ihrem nichtnaturalis­tischen Ansatz. Aber auch die Physikalisten konnten die biologischen Phäno­mene nicht adäquat beschreiben. Da es sich bei den biologischen Orga­nismen um sehr komplexe Systeme handelte, die neue Eigen­schaften hervorbrachten, waren die Theorien der Physik nur bedingt anwendbar.

296

Das Englische kennt den Begriff Leadership für die Fähigkeit, andere Menschen zu motivieren und anzuführen.

Juliaca, Peru
Juliaca, Peru


Leadership wird nicht nur von einem Präsidenten der USA erwartet, sondern von allen, die Füh­rungs­positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft innehaben.

Deutlich ausgeprägt war diese Fähigkeit z. B. bei erfolg­reichen antiken Heer­führern wie Alexander dem Großen oder Julius Caesar, die ihre Soldaten persönlich motivierten und in die Schlacht führten.

Zeit­genössi­sche Geschichtsschreiber waren beeindruckt davon, wie die Heerführer ihren eigenen Siegeswillen durch eine mitreißende Rede auf die Soldaten über­trugen, wie sie mutlose oder ängst­liche Soldaten zu einem entschlos­senen Angriff motivieren konnten.

Neben der offenen Motivation sind Menschen noch in anderer Weise auf das Netzwerk mit ihren Mitmenschen angewiesen. Menschen brauchen den kulturellen Kontakt mit ihren Mitmenschen, um sich mit ihren Werten, Vorstellungen und Verhaltensweisen als kulturelle Wesen bestätigt zu fühlen.

“296” weiterlesen

295

Erläuterung

Straßenphotographie, Cusco, Peru, 1989
Straßenphotographie, Cusco, Peru, 1989


Der menschliche Geist entwickelte sich nach dem hier vorgestellten Modell gemäß der darwinschen Evolutionstheorie in kleinen und kleinsten Schritten. (1) Zuerst existierte das Gehirn, das all­mäh­lich ein immer größeres Volumen erreichte.

(2) Der Übergang zum Netzwerk war wie geschildert ein fließender, es dauerte viele Genera­tio­nen, bis sich das Netzwerk voll ausbildete. (3) Die Netzabhän­gigkeit der Individuen entstand auch nicht von heute auf morgen, sondern in klei­nen Schritten. (4) Der Motivationsimpuls, mit dem sich die Indivi­duen gegenseitig motivieren, entstand aus unbewussten Anfän­gen und entwi­ckelte sich allmählich.

Der menschliche Geist diente von Anfang an der Steuerung der Instin­kte durch Motivation, also durch Anfeuern oder Beschwichtigen, er ent­wickelte sich nicht etwa aus der Übermittlung von neutralen Informa­tionen.

Es lohnt sich, hier zur Illustration des Begriffs des Geistes auf die religiöse Tradition einzugehen, da die Religion ältere Wurzeln hat als die Philosophie. Am Anfang des Alten Testaments wird in 1. Mose 2 erzählt, wie der jüdische Gott Jahwe den Menschen (Adam) aus Lehm formte. Aber erst, als der Gott ihm den Geist ein­haucht, beginnt der Mensch zu leben, er hat Ideen für seine Lebens­gestaltung.

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294

V.      Die Anfänge des Geistes

These 19

Der menschliche Geist

Schuhputzer, Plaza de la Independencia, Quito, Ecuador, 1989
Schuhputzer, Plaza de la Independencia, Quito, Ecuador, 1989


Die Individuen der sozialen Gruppe aus These 18 sind netzwerkfähig, in­so­fern sie in einem Netzwerk kommunizieren und kooperieren kön­nen.

Nach mehreren Generationen sind die Nachkommen der netzwerk­fähigen sozialen Gruppe auch netzbedürftig, insofern sie ohne den Zuspruch und das Hilfsangebot der Gruppenmitglieder ihren Lebensmut einbüßen und deshalb ohne das Netz nicht überleben können.

Der Motivations­impuls der Netzmitglieder, der zum Lebensmut nötig ist, ist die Keimzelle des menschlichen Geistes. Wie unsere tierischen Verwandten benötigen wir Menschen zum Überleben unser Instinkt­kostüm, darüber hinaus bedürfen wir als Netzwerker der Motivations­impulse der Netzteilnehmer.