356

Markus ist ein Dichter, sein Evangelium eine Dichtung, ein Prosa­epos im Stil der Zeit.

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien, Fahrt nach Santa Rosa, 11. Oktober 2009
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien, Fahrt nach Santa Rosa, 11. Oktober 2009

Das Evangelium des Markus ist nur einer litera­rischen Analyse zugänglich, offenbart dann aber den großen spirituellen Reichtum des Frühchristentums neben und nach Paulus.

Markus kann noch nicht auf christliche Vorbilder zurück­greifen, er knüpft in seiner Schrift an griechische und römische Literatur an. Er verwendet Erzählmotive aus christlicher Überlieferung und heidnischer Dichtung.

Die religiösen Vorstellungen kommen bei Markus aus allen Bereichen der antiken Religionen, besonders aus den Bereichen Astro­logie, Alchemie und religiöse Herrscher­verehrung.

Allgemeine religions­geschichtliche Bezüge finden sich im Markus­evangelium so häufig, dass es sinnvoll erscheint, sie wieder in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen.

355

Als das Kirchenschiff nach dem Untergang Jerusalems in schwere See geriet,

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Professor Helmut Koester (1926-2016)
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Professor Helmut Koester (1926-2016)

gab Markus die Losung aus: Den schlafenden Jesus wecken! (4, 38), sich auf Jesus besinnen.

Es waren nicht mehr die Jünger und Apostel der ersten Gene­ration, die sich wie Paulus ihrer Gott­unmittel­barkeit rühmen konnten, Galater 1,11-12, die die Kirche führten.

Es waren Christen der zweiten Generation, die mit menschlicher Tatkraft die Kirche einten, 9,39 und auf die Grundlage (arche 1,1) des Evange­liums von Jesus Christus stellten.

354

Markus zieht auch einen Vergleich des jüdischen Krieges mit dem römischen Bürgerkrieg des Jahres 69 n. Chr.

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Die Tagungsleitung
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Die Tagungsleitung

In Rom hatte der neue Kaiser Vespasian, der römische Feldherr zu Beginn des Krieges in Judäa, rasch Ordnung geschaffen durch Anknüpfung an den großen Kaiser Augustus.

Vespasian verstand sich aber nicht mehr als Gott wie seine Vorgänger aus der adligen Familie des Augustus, sondern als menschliches Wesen, das mit mensch­licher Tatkraft und mit Ehrfurcht vor den wirklichen Göttern das Gemeinwesen ordnete.

353

Markus gestaltet sein Evangelium nach der Ilias des griechischen Dichters Homer:

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Blick in den Tagungsraum
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Blick in den Tagungsraum

Der Tod Jesu, des nach dem Urteil des Markus größten Juden seiner Zeit, im Evan­gelium verweist auf den späteren Untergang Jerusalems. Auch der Tod Hektors, des größten trojanischen Helden, verweist bei Homer auf den späteren Untergang Trojas.

Das Evangelium schließt mit den Tätigkeiten, die zum Begräbnis Jesu gehören, wie die Ilias mit den Feierlich­keiten zum Begräbnis Hektors schließt.

Die Auferstehung Jesu kann im Evangelium nicht mehr erzählt werden, weil auch das literarische Vorbild, die Ilias Homers, mit dem Begräbnis endet und das weitere Geschehen bereits vorher angedeutet wurde.

352

Markus reagiert zunächst mit Trauer,

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Das Tagungshotel Flamingo
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Das Tagungshotel Flamingo

auch er sieht einen Zusammenhang zwischen dem Wirken der Christen und dem verhängnisvollen Aufstand gegen Rom.

Aber Markus findet Trost in der griechischen Dichtung, bei Homer, dessen Ilias ihm als damalige Schullektüre gut vertraut war.

So kann er den Untergang Jerusalems mit dem Untergang Trojas bei Homer vergleichen und als von Gott zugeteiltes Schicksal verstehen.

So wie trotz allen menschlichen Ringens die Niederlage der Trojaner in der Ilias von Zeus beschlossen war, so folgte die Niederlage der Juden dem Ratschluss Gottes, der von den Menschen als Schick­sal anzunehmen ist.

351

Der Autor des Markusevangeliums schreibt nach der Kata­strophe des jüdischen Krieges,

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; In den Straßen von Santa Rosa
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; In den Straßen von Santa Rosa

der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. Er fragt: Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen?

Warum konnte Gott es zulassen, dass die Heiden die heilige Stadt und den wenige Jahre zuvor fertig gestellten Tempel zerstörten?

Hatte Josephus, der konservative jüdische Historiker, recht mit seiner Schuldzuweisung an die Aufständischen, zu denen auch Christen gehörten?

Waren die Christen in Palästina schuld am Brand Jerusalems unter Titus, dem Sohn und Nachfolger Ves­pasians wie die römi­schen Christen angeblich am Brand Roms unter Kaiser Nero?

350

Ein neues Thema:

Das Evangelium des Markus

Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Fahrt nach Santa Rosa, 11. Oktober 2009
Jesus Seminar Oktober 2009 in Santa Rosa, Kalifornien; Fahrt nach Santa Rosa, 11. Oktober 2009

Der ganze Text ist abgedruckt in: Neumann, Johannes: War Jesus Statthalter von Galiläa? Radebeul 2009, S. 43-92. Das Buch kann über den Buchhandel bezogen werden. Weitere Bücher finden sich auf meiner Homepage www.johannesneumann.com

153

V  15   Der Kanon des Neuen Testaments

5.15.1.
Die herrschende Meistererzählung über die Entstehung des neutesta­ment­lichen Kanons geht so: In der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.

Istanbul, Hagia Sophia, Christus
Istanbul, Hagia Sophia, Christus

waren in den christlichen Gemeinden so viele Evangelien und Apostel­briefe im Umlauf, dass die Gemeinden die Spreu vom Weizen trennen mussten.

In den Kanon der für die christliche Religion maßgeblichen Schriften nahmen sie nur Schriften auf, die ihrer Ansicht nach einen der zwölf Apostel oder den Apostel Paulus als Autor hatten oder von einem der Apostel autorisiert waren wie z. B. das Lukasevangelium des Paulus­begleiters Lukas (Kol 4,14; 2 Tim 4,11; Phlm 24) vom Apostel Paulus.

5.15.2.
Die neuen Thesen über die Entstehung des neutesta­ment­lichen Kanons:

Der neutestamentliche Kanon wurde aus Schriften der drei palästinensi­schen Apostelkirchen des Jakobus, des Johannes und des Petrus und der heidenchristlichen Pauluskirche zusam­mengestellt.

5.15.3.
Kriterium der Aufnahme in den Kanon war die Ausgewogenheit der Herkunft aus den Teilkirchen und das Eintreten der Schriften für die Einheit der Kirche.

150

V  14   Das Markus-Evangelium

5.14.1.
Die herrschende Meistererzählung über das Evangelium des Markus geht so: Die Christen haben ihre Erinnerungen an Jesus

Istanbul, theodosianische Landmauer
Istanbul, theodosianische Landmauer

in der Gemeinde weitererzählt. Als die, die Jesus noch persönlich kannten, älter wurden, hat Markus ihre Erinnerungen gesammelt und aufge­schrie­ben und als Evangelium herausgegeben.

5.14.2.
Die neuen Thesen über das Evangelium des Markus:

Das Markus-Evangelium ist eine epische Dichtung, der Autor hat es nach Homers Ilias gestaltet.

5.14.3.
Markus hat die Passionsgeschichte innerhalb seines Evangelims nach der Praetexta Octavia des Pseudo-Seneca gestaltet.

138

5.11.5.
Die Marias im Neuen Testament sind wohlhabende Frauen, insbeson­dere Kauffrauen, die im Ruf alchemistischer Fähigkeiten standen

Ephesus, antike Toilette
Ephesus, antike Toilette

und die Christen materiell und finanziell unterstützten.

5.11.6.
Die Zeugung des Messias wurde als (alchemistischer) Schöpfungsakt verstanden, und nur einer ganz integren, also reinen Alchemistin konnte die Empfängnis des Messias mit Gottes Hilfe (Gottes Geist) gelingen.

Deshalb nannte man die Mutter des Messias nach der berühmten Alchemistin Maria. Dass sie Jungfrau genannt wird, weist auf ihre Rein­heit hin, deshalb muss Jesus in der Legende auch ihr erstgeborener Sohn sein.

5.11.7.
Auch die Auferstehung wurde als ein alchemistischer Schöpfungsakt angesehen. Sie wurde von den Maria genannten Frauen vorbereitet.

Als die Frauen an das Grab kamen und den Leib Jesu für die Auferstehung vorbereiten wollten, hatte der Schöpfergott als der Herr über die alchemistischen Kräfte und Geheimnisse die neue Schöpfung schon vollzogen und Jesus auferweckt.

137

V  11   Maria und Joseph

5.11.1.
Die herrschende Meistererzählung über die Eltern Jesu

Ephesus, römischer Fußsoldat
Ephesus, römischer Fußsoldat

geht so: Die Hausfrau Maria und der Bauhandwerker Joseph waren die leiblichen Eltern Jesu.

5.11.2.
Die neue Grunderzählung über die Eltern Jesu geht so:

Maria war nicht der Name der Mutter Jesu. Der Name der Mutter gehört ebenso wie die Jungfrauschaft zur christlichen Legende der Herkunft des Messias.

5.11.3.

Maria war nicht der Name der im Neuen Testament Maria genannten Frauen, höchstens ihr Beiname.

5.11.4.
Maria war eine im Altertum sehr bekannte jüdische Alchemistin.

Literatur: Patai, Raphael: The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton, New Jersey 1994, S. 60-91; Schütt, Hans-Werner: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 117-126,

135

5.9.12.
Kephas, der spätere Leiter der Petrus-Kirche, ist nicht identisch mit Simon Petrus. Am Apostelkonzil hat nicht Petrus, sondern

Ephesus, Göttin
Ephesus, Göttin

Kephas teil­genom­men. Paulus hat nicht Petrus, sondern nur noch Kephas persön­lich kennen gelernt. Paulus unterscheidet in Gal 1f genau zwischen dem Judenapostel Petrus und dem Kephas, einer der drei Säulen Gal 2,9), dem er persönlich begegnet war.

113

5.5.13.
Die internationale Sprache der Astrologie: Zu Pfingsten, bei der Ausgießung des Heiligen Geistes, sagt die von

Masada
Masada

Lukas in der Apostelgeschichte zitierte Legende, hätten alle Diaspora­juden die Apostel in ihren verschiedenen Muttersprachen verstehen können.

Heute denken wir bei einer internationalen Sprache eher an die Kunst oder die Musik. In der Antike sollte man zuerst an die Astrologie denken, die von allen Völkern verstanden wurde.

Die Rede der Gnostiker von der astrologischen Ära des Widders, die geendet, und der neuen Ära der Fische, die gerade begonnen hatte, war eine Rede, die alle in ihrer Muttersprache verstanden.

Mit dem Sprach­wunder zu Pfingsten, einem Zeichen der Endzeit, wurde nach damaliger Auffassung die babylonische Sprach­ver­wirrung aus der biblischen Urgeschichte in Gen 11,7f aufgehoben.

091

5.2.16.
In den Jahren 35 – 36 n. Chr. führte die armenische Krise, ein Konflikt zwischen Rom und den Parthern

Jerusalem, Schrein des Buches
Jerusalem, Schrein des Buches

um das Königreich Armenien dazu, dass Jesus im politischen Machtpoker der jüdischen Territorien wieder im Rennen war.

Im Jahr 35 n. Chr. starb der armenische König Artaxias, der mit Rom durch einen Freundschaftsvertrag verbunden war. Der parthische Großkönig Artabanos III. erwartete unter dem alternden Kaiser Tiberius den Niedergang Roms, eroberte die armenische Hauptstadt Artaxata und setzte seinen ältesten Sohn Arsakes als armenischen König ein.

Die armenische Krise führte 35 – 36 n. Chr. zu einer kurzzeitigen Schwächung der römischen Macht im Osten und zur Hoffnung auf eine Unabhängigkeit der jüdischen Provinzen von Rom, Tacitus, Annalen 6,31ff; Ant 18,4,4, Karl Christ, Das römische Kaiser­reich, München 3. Aufl. 1995, S. 205f.

076

IV  8   Der Abschluss des Alten Testaments nach 70 n. Chr.

4.8.1.
Die Zerstörung Jerusalems und des Jerusalemer Jahwe-Tempels

Kapernaum, Brotvermehrungskirche, Mosaik
Kapernaum, Brotvermehrungskirche, Mosaik

er­schien vielen Juden als ein Epocheneinschnitt.

4.8.2.
Die einzelnen Schriften des Alten Testaments wurden nach 70 n. Chr. überarbeitet, ergänzt und abgeschlossen.

4.8.3.
Die Abgrenzung des alttestamentlichen Kanons erfolgte nach dem Ende des Bar-Kochba-Aufstands (nach 135 n. Chr.) und unter dem Einfluss der christlichen Kanonbildung.

075

4.7.3.
Der jüdische Aufstand war am Ende nicht erfolgreich, insofern er nicht die erhoffte Unabhängigkeit brachte. In den alttestamentlichen

Kapernaum, Brotvermehrungskirche, Mosaik
Kapernaum, Brotvermehrungskirche, Mosaik

Berich­ten über den Aufstand erkennt man aber die hohe Bedeutung für die Identitätsfindung des Judentums.

In der kurzen Zeit des Aufstands konnte sich das Judentum ohne Fremdherrschaft autonom entfalten und Kriterien für die eigene religiöse Kultur entwickeln, die ­das Jü­disch­sein bis heute definieren.

074

IV  7   Der große Aufstand

4.7.1.
Der große Jüdische Aufstand 66-70 n. Chr. erscheint im letzten Teil der Mosebücher, im Buch Josua, als die Zeit des Mosenachfolgers Josua

Kapernaum, Brotvermehrungskirche
Kapernaum, Brotvermehrungskirche

(=hebräische Form des Namens Jesus) und in den Königsbüchern als die Herrschaft des Königs Josia (Name nicht durch archäologische Urkunden belegt).

4.7.2.
In den biblischen Berichten über Josua und König Josia kann man die Ziele der Aufständischen erkennen. Josua erobert das Land Israel, beschneidet die Israeliten, feiert das Passah, opfert und verkündet das Gesetz.

König Josia muss keine Fremdherrschaft erdulden, findet das Gesetz und befolgt es, reinigt den Tempel von nichtjüdischen Göttern und nichtjüdischen religiösen Symbolen und feiert das Passa in reiner Form (2 Kön 22f).

071

4.5.5.
Die jüdischen Dichter-Propheten engagierten sich nicht beim Militär, auch nicht in der Liebe, sondern übertrugen die Liebesmetaphorik

Kapernaum, antike Synagoge
Kapernaum, antike Synagoge

Ovids und anderer Dichter auf die religiöse Ebene. Bei Ovid klagte der Liebende, das literarische ich, über die Untreue der geliebten Frau.

Bei den hebräischen Dichter-Propheten, klagte der jüdische Gott in densel­ben Bildern und Versen über die Untreue seines geliebten Volkes, der Juden, vgl. Hes 16 und 23.

070

4.5.4.
Ovid und die anderen augusteischen Dichter hatten als Ersatz für den verlorenen Militär- und Staatsdienst den Minnedienst empfohlen. Ovid

Kapernaum
Kapernaum

beschrieb in mehreren literarischen Werken, dass der junge Mann, dem der Dienst am Vaterland versagt geblieben oder unattraktiv gewor­den war, sich dem Liebesdienst, dem Dienst an der Geliebten hingeben soll, und Ovid gab ihm Tipps, wie er dies tun konnte.

Den jungen Männern Judäas und Galiläas ging es ebenso wie den jun­gen Römern: Die Friedenszeit unter Kaiser Augustus und seinen Nachfol­gern hatte ihnen eine Militärkarriere versagt, die Monarchien der Herodes­nachfolger bzw. die römischen Statthalter­schaf­ten verhinderten politisch einflussreiche Ämter, die es in den unabhängigen Kleinstaaten gegeben hatte.

Die Alternative Ovids, der Dienst der Liebe, war dem religiösen jungen Mann in Judäa und Galiläa, ebenfalls verwehrt.

Die augusteischen Dichter hatten aber nicht nur die Liebe als alterna­tives Engagement empfohlen, sondern hatten die sozialen und religiösen Verhältnisse in Rom angeprangert. Und dieses Engagement entdeckten die jüdischen Dichter als neues Betätigungsfeld.