423

Massilia 4, Lucan als Vorbild 2: Die Soldaten konnten mit den Schilden zu ihrem Schutz die oben genannte Schildkröte

Hamburger Hafen, Druzhba, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Druzhba, 16. 7. 1989

bilden, bei der die Soldaten ein Karree bildeten, die außen stehenden Soldaten die Schilde nach außen lückenlos neben­einander stellten und die inneren Soldaten ein Schilddach gegen Wurfgeschosse bildeten.

Beim Vormarsch gegen die Wehranlagen einer Festung oder befestigten Stadt bildeten die Soldaten ein Schilddach, um Wurf­geschosse abzuwehren.

Lucan dient mit seinem Epos Pharsalia dem Autor Markus auch sonst als Vorbild, so dass wir bei ihm eine gute Kenntnis des Epos Lucans voraus­setzen können.

Beide waren Zeitgenossen und – Lucan als Republikaner, Markus als Christ – Gegner des Kaisers Nero, und so lag eine vergleich­bare Weltsicht nicht fern.

422

Massilia 3: 2. Der römische Dichter Lucan als Vorbild des Autors Markus:

Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989

Markus verwendet gern bekannte Bilder aus dem mili­täri­schen Bereich, um die Auseinandersetzung zwi­schen Jesus und seinen Gegnern zu schildern.

Der Sieg gegen den unreinen Geist in Markus 1 kann man als Zweikampf von Gladiatoren inter­pretieren, in dem Worte den Gegner wie Schwerthiebe treffen.

Die Verwendung der großen körper­bedeckenden Schilde der römi­schen Infanterie bei militärischen Aufmärschen, Übungen oder im Krieg erzeugte eindrucksvolle Bilder, die auch in der augus­teischen und späteren kaiser­lichen Bildpropaganda nicht fehlten und so allgegenwärtig wa­ren.

421

Massilia 2: (2) Lucan berichtet im Epos Pharsalia Folgendes:

Hamburger Hafen, Sedov, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Sedov, 16. 7. 1989

Caesar belagerte mit seinen Truppen die Stadt Massilia. Ein hei­liger Hain, der seit Menschengedenken nicht angetastet worden war, behinderte die Belagerung. Deshalb befahl Caesar seinen Truppen, die Bäume zu fällen.

Die Soldaten wei­ger­ten sich aus religiöser Scheu, Hand an die den Göttern ge­weih­ten Bäume zu legen, und waren wie gelähmt. Da ergriff Caesar selbst eine Doppelaxt, spaltete eine hochragende Eiche und befahl seinen Soldaten, es ihm nachzutun,

mit den Worten: Dass keiner von euch mehr zögert den Wald zu fällen, nehmt an, ich hätte die Sünde begangen! (3,436-437) Die Soldaten gehorchten zögernd, doch, so schreibt Lucan, Caesars Zorn wog den Zorn der Götter auf. (3,439).

420

Markus 2,1-12 und die Belagerung von Massilia in Lucan, Pharsalia, Buch 3:

Hamburger Hafen, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, 16. 7. 1989

1. Der Bericht Lucans: Lucan beschreibt in den Pharsalia Buch 3 die Belage­rung der gallischen Stadt Massilia (heute Marseille) durch Cae­sars Truppen während des Bürgerkriegs mit Pom­peius.

Im Jahre 49 v. Chr. war Caesar, von Rom kommend, auf dem Weg nach Spanien und belagerte die befestigte Stadt Massilia. Im Buch 3,399-486 beschreibt Lucan zwei Details, die später in der Erzählung des Markus eine zentrale Bedeu­tung haben.

(1) Die Soldaten Caesars werden bei ihrem Angriff von Wurfge­schos­sen aus der belagerten Stadt am Vorrücken gehindert. Sie bilden daraufhin mit ihren Schilden ein geschlos­senes Dach über ihren Helmen, eine sogenannte Schildkröten­formation, die sie vor den feindlichen Wurfgeschossen zuver­lässig schützt.

Erst als ihre Kräfte nachlassen und das vorher geschlos­sene Dach Lücken aufweist, können die gegnerischen Geschosse in die Reihen der Soldaten eindringen und Schaden anrichten.

419

Erotik 3: Jesus und die Schönheit sind nicht unzertrennlich:

Hamburger Hafen, Sedov, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Sedov, 16. 7. 1989

Als Jesus gefangen genommen wird, flieht auch die Schönheit in Gestalt des nackten jungen Mannes, 14,52.

Nachdem ihn die Schönheit verlassen hat, wird auch sein Gutsein infrage gestellt: er wird verurteilt.

Spä­ter wird die Ehre Jesu wieder hergestellt, er wird moralisch re­habilitiert.

Folge­richtig kehrt auch die Schönheit zurück, sym­bolisiert durch den nun wieder züchtig bekleideten Jüngling im Grab, der den Frauen die Auferstehung Jesu ver­kün­det, 16,5.

418

Erotik 2: Wie die Schönheit Jesu zu beschreiben wäre,

Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989

bleibt dem ästhe­tischen Empfinden jeder Epoche und jedes Einzelnen überlassen.

Jesus stellt die körperliche Schönheit und erotische Attraktivität der Kranken wieder her, besonders deutlich in der Erzählung von der Auferweckung der Tochter des  Jairus, 5,41-42. Er tröstet die Kranken nicht etwa mit dem Hinweis auf ihre inneren Werte!

Schönheit ist aber kein Wert an sich. Der schö­ne reiche Jüngling, 10,17-27, wird zurückgewiesen, weil er die moralischen Ansprüche der Gemeinschaft, die Bedingun­gen der Nachfolge Jesu, nicht erfüllt.

417

6. Erotik: Die Erotik kommt im Markusevangelium nicht zu kurz,

Hamburger Hafen, Großsegler, 23. 7. 1989
Hamburger Hafen, Großsegler, 23. 7. 1989

6. Erotik: Die Erotik kommt im Markusevangelium nicht zu kurz,

auch wenn sie nur dezent angedeutet werden kann. Markus stellt sich und uns Jesus als einen schönen Mann vor.

Für die Griechen gehören Schönheit und moralisches Gutsein zusammen. Kalos k’ agathos = schön und gut war eine stehende Redewendung.

Der Gottes­sohn Jesus als Buckliger oder mit hässlichen Gesichts­zügen, als unge­waschener Philosoph oder als ein nach Kuhmist stinkender Bauer, das wäre ein Widerspruch in sich.

416

Sprache 2: Die Sprache des Markus ist situationsbedingt

Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989
Hamburger Hafen, Großsegler, 16. 7. 1989

wie die der Dichterkollegen seiner Zeit. Von den altertümlichen Sep­tua­­ginta-Zita­ten über feierliche Worte einer Gottesstimme bis zur Beschrei­bung alltäglicher Situationen wie des Kranken auf einer ein­fachen Matratze, 2,19, reicht die Sprache des Markus.

Ein unreiner Geist nennt sich mit dem lateinischen Begriff Legion, weil er mit seinen Spießgesellen so zahlreich auftritt wie die Soldaten einer römischen Legion, 5,9.

Der Ausländer Pilatus nennt Jesus einen König der Juden, 15,26, weil er zwischen den einzelnen Regionen Palästinas nicht unter­scheiden kann.

Die mit dem Land vertrauten Spötter unter dem Kreuz wissen es besser, sie nennen Jesus den König von Israel, weil Jesus und seine Anhänger aus den nördlichen Regionen Palästinas, dem alten Israel, stammen.

415

5. Die Sprache: Die Sprache des Markus ist die Sprache

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

des poeta doctus, des gelehrten Dichters. Der Dichter will die Vielfalt des Lebens auch in der Sprache abbilden und passt die Sprachstile der jeweiligen Sprechsituation an.

In der lateinischen Philologie hatte die ältere Forschung sich häufig über die angeblich mangelnden Lateinkenntnisse der mittelalterlichen Abschreiber mokiert.

Heute weiß man: die lateinischen Dichter verwendeten für bestimmte Situationen Dialektvarianten und Slang-Ausdrü­cke der sozialen Unter­schicht, um die Sprechweisen der einzel­nen Sprecher zu unterscheiden.

414

Lesererwartung 3: Markus hatte den Einwand des Lesers geahnt,

Hamburg bei Nacht, Dom, Riesenrad, 1989
Hamburg bei Nacht, Dom, Riesenrad, 1989

er erzählt nicht die Geschichte des Gladiators Jesus im Kampf mit den Krankheiten, sondern die, wie ein politischer Führer einen Anhänger gewinnt, der für ihn als Herold tätig sein wird, der sein Kerygma, seine Herolds­botschaft verkündet.

Als Markus die nächste Heilung erzählt, kommt wieder der vorlaute Einwand: das kennen wir doch schon, Jesus sucht Herolde für seine Botschaft.

Markus hat auch diesen Einwand geahnt und erzählt wieder eine andere Geschichte: Die Ge­schichte eines religiös-philosophischen Dis­kur­ses über die Fra­ge, ob Krankheit eine Strafe Gottes ist und ob gesell­schaft­liche Veränderungen von Menschen herbei­geführt werden dürfen.

413

Lesererwartung 2: Ich möchte dies wieder

Hamburg bei Nacht, Musical Cats, 1989
Hamburg bei Nacht, Musical Cats, 1989

an den ersten drei großen Heilungs­wundern demonstrie­ren. In 1,23-28 gibt es einen Kampf wie in der Arena der Gladiatoren.

Dem Wortgefecht folgt der echte Schlag­abtausch, Jesus ist der siegreiche Gladiator, das Publikum klatscht Beifall.

Als Markus in 1,40-45 mit der Heilung des Aussätzigen beginnt, ruft der vorwitzige Leser: Ach, das kenne ich schon, Jesus wird den Aussatz besiegen wie ein Gladiator den anderen.

412

4. Lesererwartung: Markus führt einen Dialog

Hamburg bei Nacht, Cafe Keese, 1989
Hamburg bei Nacht, Cafe Keese, 1989

mit dem Leser. Er neckt den Leser wie ein Kriminalschriftsteller, der immer neue falsche Fährten auslegt, um sich dann zu freuen, wenn der arme Krimi-Leser darauf hereinfällt.

Die Reaktionen, die Markus im Leser hervorruft, weist er dann als unangemes­sen zurück und führt den Leser so spielerisch in die Geheim­nisse des Christseins und des göttlichen Wirkens ein.

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3. Äußerlichkeit: Als ein guter Erzähler beschreibt Markus

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

den äußer­lichen Ablauf der Handlung, den der Leser selbst interpretieren muss. In 1,40 sieht man den Aussätzigen auf die Knie fallen.

Man muss befürchten, dass er aus Schwachheit oder Ungeschicktheit stürzt und den direkt vor ihm stehenden Jesus mit Krankheits­keimen infiziert.

Erst aus dem Zusammen­hang erfährt der Leser, dass der Aussätzige Jesus wie einem Herrscher kniefällig huldigt.

Matthäus verwen­det den Fachausdruck Proskynese für den Kniefall vor den Herrscher und bringt den Leser damit um die Spannung, die Markus so geschickt aufbaut.

410

Theater 4: In Markus 1,42 läuft der Aussatz vom Kranken weg

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

wie Jakobus und Johannes von ihrem Vater Zebedäus in 1,20 weglaufen. Man hat den Eindruck, Markus denkt dabei an eine Theaterszene, in der der Kranke die alte Haut mit dem Aussatz wie ein altes Kleid trägt.

Im 1,42 kommt ein anderer Schau­spieler und nimmt das alte Kleid (die alte Haut) weg und darunter kommt die neue reine Haut als schönes neues Kleidungsstück zum Vor­schein

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Heute unterbreche ich den normalen Text, um etwas von mir zu erzählen.

Johannes Neumann auf der Fahrt zum Titicacase
Johannes Neumann auf der Fahrt zum Titicacasee

Ich bin Johannes Neumann, wohne in der Nähe von Dresden in Deutschland. Seit meiner Jugend interessiere ich mich für das Christentum, für seine Entstehung und die Bibel.

Daneben interessiere ich mich für Archäologie und die Geschichte des Alten Orients, der griechischen und römischen Antike und ihre Literatur. Dort gibt es so viele Informationen, die uns helfen, die Bibel und die Geschichte Jesu und des Urchristentums besser zu verstehen.

Ich freue mich ganz besonders über jeden einzelnen, der meinen Blog liest und Kommentare schreibt. Es ist ganz toll, wenn ihr einen Link zu meinem Blog auf eure Homepage setzt oder mich in eurer Facebook-Gruppe weiter empfehlt. Meine Thesen sollen noch bekannter werden, damit sie in den Diskurs der Theologie Eingang finden.

Wer mich unterstützen möchte, findet ein Spendenkonto auf der Titelseite meines Blogs. Meine Bücher findet ihr auf www.johannesneumann.com

408

Theater 3: Aussätzige und Gesunde begegnen sich

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

im realen Leben nicht, 3. Mose 13,45, nur auf der Theaterbühne treffen sie aufeinander. Dass ein Aussätziger mit Jesus zusammen­trifft 1,40, ist nur im Theater möglich.

Während sich der Aussätzige Jesus straflos nähern darf, spürt Jesus die Hilflosigkeit des Lahmen scheinbar nicht, 2,4. Die Show-Einlage, den Kranken vom Dach her­ab­zulassen, wirkt im realen Leben merkwürdig.

Mit der Theatertechnik, auch der antiken, war das leicht möglich. Für die Zuschauer war es ein Gaudi, das in der Erinnerung haften blieb und die Botschaft trug. Darauf kam es Markus an.

407

Theater 2: Bei Matthäus steht nicht mehr ein taufender Johannes

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

in der Wüste, sondern es ist Johannes mit dem Beinamen der Täufer, der in der Wüste predigt.

Lukas, der historisch interessierte Evangelist, erwähnt die Wüste nur noch als Ort der göttlichen Weisung an Johannes und lässt den Täufer gleich am Jordan predigen.

Die Wüste, in der Johannes bei Markus predigt, ist also keine reale, sondern eine Theater-Wüste, die geistige Leere in den Köpfen und Herzen der Men­schen, denen Johannes die Umkehr, den Neuanfang predigt.

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2. Theater: Die Geschichten des Markus sind

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

nicht realis­tisch, sondern theatralisch, Theater im Theater, Spiel im Spiel. In Markus 1, 4 steht Johannes taufend (so wörtlich im Grie­chischen) in der Wüste.

Aber wie soll Johannes taufen, wenn er kein Wasser zum Abwaschen der Sünden zur Verfügung hat?

In 1,5, wo die Taufhandlung erzählt wird, haben schon die antiken Handschriften das Wasser ergänzt, dort heißt es: sie ließen sich im Jordan taufen.

405

Symbolik 2: Die große Stille, 4,39, ist in der hellenis­tischen Philosophie Epikurs

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

und später in der ganzen antiken Philo­sophie ein Symbol für die seelische Ausgeglichenheit, die das Ziel der philo­sophischen Unterweisung ist.

Die als tatsächliche Bege­ben­heit geschilderte Sturmstillung hat also durchaus Gleich­nis­charakter. Wenn das so ist, kann man fragen: Legt Markus den Leser in der Deutung als Geschichtserzählung oder Gleichnis fest?

Oder gibt der Evangelist seinem Publikum eine Deutungsfreiheit, das eine oder das andere zu wählen? Darf der Leser entscheiden, ob er die Geschichte als real oder als Gleich­nis ansehen will?

404

Erzähltechnik: Bei Markus ist jedes Wort sorgfältig gewählt, keines ist zuviel.

800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989
800 Jahre Hamburger Hafen, Mai 1989

1. Symbolik: Das erste dichterische Gestaltungs­mittel ist die Symbolik. Wir werden gezwungen, uns die Frage zu stellen: Ist das Bezeichnete auch das Gemeinte?

In den Gleichnissen in Markus 4 ist das ganz offensichtlich nicht der Fall, ein Gleichnis weist über sich hinaus auf einen anderen, schwieriger zu ver­stehenden Sachverhalt.

Aber was ist Gleichnis, was Hist­orie? Ist die Stillung des Sturms, die das Gleichniskapitel krönt und abschließt, ein historischer Bericht oder ein Gleich­nis?

(Fortsetzung folgt)