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Wie eine Funktionsverschiebung funktioniert, beschreibt Mayr anschlie­ßend wie folgt:

Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989
Festumzug, Cusco, Peru, 27. 8. 1989

Während einer solchen Funktionsverschiebung durchläuft eine Struktur immer eine Phase, in der sie gleichzeitig zwei Funktionen ausüben kann, wie die Antennen von Daphnia, die gleichzeitig Sinnesorgan und Schwimmruder sind. Diese Dualität der Funktion ist möglich, weil der Genotyp ein höchst komplexes System ist, das immer auch gewisse Aspekte des Phänotyps produziert, die nicht unmittelbar durch die Auslese gefördert werden, sondern einfach "Nebenprodukte" des von der Selektion begünstigten Genotyps sind.


Solche Nebenprodukte stehen dann für den Erwerb von neuen Funktionen zur Verfügung. Sie sind es, die es den vorderen Gliedmaßen (mit einer Flughaut) eines Tetrapoden gestatten, als Flügel zu fungieren, oder der Lunge eines Fisches, als Schwimmblase. Es gibt im Phänotyp jedes Organismus zahlreiche "neutrale Aspekte", die von der natürlichen Auslese "zugelassen", d. h. nicht beseitigt werden, die aber auch nicht spezifisch durch sie begünstigt worden sind.

Derartige Komponenten des Phänotyps stehen zur Übernahme neuer Funktionen zur Verfügung. Verschiebungen in der Funktion sind auch von Makromolekülen und Verhaltensmustern bekannt, zum Beispiel, wenn bei bestimmten Enten das Gefiederputzen zu einem Teil des Werbeverhaltens wird.
(Mayr 2002, S.491

Über die Intensivierung der Funktion eines vorhandenen Organs schreibt Mayr weiter:

Wie Severtsow gezeigt hat, ist häufig lediglich eine Intensivierung der Funk­tion nötig, um es einer Struktur zu ermöglichen, eine scheinbar neue Funk­tion zu übernehmen. Auf diese Weise wird zum Beispiel die vordere Extremität eines laufenden Säugetiers zur Grabschaufel eines Maulwurfs, zum Flügel der Fledermaus oder zu den Flossen eines Wals umgestaltet.

Als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Augen bedarf es nicht mehr als der Existenz lichtempfindlicher Zellen. Die natürliche Auslese begünstigt dann schon den Erwerb aller nötigen Hilfsmechanismen. Das ist der Grund, warum sich Photorezeptoren oder Augen mehr als vierzig Mal unabhängig vonein­ander im Tierreich entwickelt haben (…)

Der entscheidende Faktor bei dem Erwerb der meisten evolutiven Neuheiten ist jedoch die Umstellung des Ver­haltens.
(Mayr 2002, S.491)

Ich habe Ernst Mayr so ausführlich zitiert, weil es mir wichtig ist, deutlich zu machen, wie evolutive Neuheiten entstehen und wie nicht. Neuheiten der Evolution entstehen nicht dadurch, dass ein funktions­fähiges Organ auf welche Wiese auch immer über viele funktions­unfä­hige Zwischenstufen herangezüchtet wird.

Evolutive Neuheiten ent­ste­hen nur, indem ein vorhandenes Organ durch Funktions­verschie­bung oder Funktionsverstärkung eine neue Aufgabe übernimmt. Die Schluss­folgerungen für unsere Frage, wie der menschliche Geist entstand, werden in These 5 gezogen.

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