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1.5.9.
Zur Zeit des Herodessohns Antipas, des Fürsten von Galiläa (4 v. – 39 n. Chr.), hatte sich die Situation gewan­delt. Antipas hatte

el Faijum, Lastesel
el Faijum, Lastesel

in Rom studiert und dort die Bedeutung schriftlich fixierter heiliger Texte kennen gelernt. Er hatte auch bei Dichterlesungen römische Dichter gehört und die Bedeutung der Dichtkunst für das Selbst­verständnis und das Selbst­bewusst­sein der Römer kennen gelernt.

Erst in der Zeit der Herrschaft des Antipas, der in seinem Fürstentum keinen dem Jerusalemer Tempel vergleichbaren Tempel besaß, wurde von Rom die Idee übernommen, in dichterischen Texten die große Vergangen­heit der Juden zu beschrei­ben, um den Juden eine kulturelle Identität auf der Basis einer natio­nalen Literatur zu geben.

Roland Baumgarten schreibt dazu (Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen, 1998, S. 223f):

Wie das Vorherrschen pseudepigraphischer Texte zeigt, wurde die Schrift hauptsächlich genutzt, um Tradition zu fingieren. … (Schriftlichkeit gibt es) dort, wo neue religiöse Konzepte etabliert werden sollten. Solche faktischen Traditionsbrüche können sich leichter durchsetzen, wenn sie in das Gewand altüberkommener Überlieferung gekleidet und so legitimiert werden, wenn der Innovationsschub also als Traditionsschub ausgegeben wird…

Die in der Zeit des Antipas neuen Schriften unseres Alten Testaments begründen eine neue Tradition, die sie als altehrwürdig ausgeben.

Weil man die Konflikte der eigenen Zeit in die Vergangenheit übertrug, kön­nen diese Schriften zugleich als Schlüssel­romane über die herodiani­sche Zeit gelesen werden.

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