1.5.6.
Die traditionelle Erzählung über die Entstehung der alttestamentlichen Schriften geht so: Die Schriften des Alten Testaments wurden

in der Zeit der vorhellenistischen Königreiche Juda und Israel verfasst, in späterer Zeit ergänzt und lagen zur Zeit Jesu im Wesentlichen fertig vor. Parallelen zwischen der Geschichte Jesu und alttestamentlichen Textstellen entstanden dadurch, dass die Verfasser der neutestamentlichen Schriften die Messias-Weissagungen des Alten Testaments auf Jesus bezogen.
1.5.7.
Ich vertrete folgende Meinung: Bis zur Zeit des Königs Herodes (40-4 v. Chr.) wurden im Judentum heilige Texte, denen man auch eine magische Wirkung zuschrieb, nur mündlich überliefert, damit sie nicht Gefahr liefen, in falsche Hände zu geraten und missbraucht zu werden. Die Juden hielten es wie die schriftlosen Kelten, von denen Caesar dieselbe Einstellung berichtet, Bell Gall VI 14.
Aber auch die viel schreibenden Griechen hielten sich zurück, wenn es um die Verschriftung heiliger Texte ging. Dazu schreibt Roland Baumgarten (Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen, 1998, S. 223f):
Es ist kein umfassendes Bemühen der Griechen erkennbar, tatsächlich altes religiöses Traditionsgut zu verschriften. Die eingeübte und bewährte Kultpraxis scheint sich gegenüber dem Eindringen von Schriftlichkeit als weitgehend resistent erwiesen zu haben.
Dass die Juden heilige Texte nicht schriftlich fixierten, war also keine jüdische Besonderheit, sondern folgte einem antiken Muster.